Erich Wehrenfennig
Umsturz und Kirchenfrühling
in ihrem Zusammenspiel
in der Tschechoslowakischen Republik
In einem Gemeindevortrag am 14. April 1929 in Bodenbach
beschreibt der Kirchenpräsident der Deutschen Evangelischen
Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien die Situation der
verschiedenen protestantischen christlichen Kirchen in der
1. Tschechoslowakischen Republik.
Als nach dem Weltkriege die tschechischen Legionäre aus Frankreich in Prag
einzogen und am Denkmal des heiligen Wenzel hielten, trugen ihre Bagagewagen
nicht das Bild des Landesheiligen, sondern das Zeichen des "Ketzers" und
"Nationalhelden Johann Hus" - den Kelch. Das Zeichen der Religion wurde zum
Wahrzeichen der Nation, ja sollte es nach dem Willen einflußreicher Rufer
im Streite auch für den Staatsneubau werden. Auch darum, nicht bloß
weil die Tschechen im Weltkriege der westlichen Demokratie nahegerückt
waren, konnten sie im August 1928 den romfreien Weltkirchenkongreß
(Weltbund für Freundschaftsarbeit der Kirchen) nach Prag einladen. Und die
Vertreter der protestantischen, orthodoxen und anglikanischen Kirchen
fühlten sich in Prag zu Hause, das nur mehr zu drei Viertel katholisch ist
(eine andere Statistik sagt, nur noch 58% seien es), in Prag, dessen
ältester Platz seit dem Umstürze nicht mehr die Mariensäule
trägt, das Siegeszeichen über den einst unterworfenen
Protestantismus, sondern das Denkmal des Johann Hus.
Wer da meint, die Kirchen hätten durch den Weltkrieg und seine Auswirkung
an Bedeutung verloren, der tue einen Blick in den Kirchenfrühling, der in
der Tschechoslowakischen Republik erwacht ist. Der Boden, auf dem diese
erwuchs, war immer schon religiös unterminiert, aber die
Veränderungen, welche hier in religiöser Beziehung seit 1918 vor sich
gingen sind in unserer kirchenfeindlich genannten Zeit staunenerregend. Wir
sehen da Kirchen, die sich von der Welle slawischer Begeisterung und nationaler
Erhebung mit emportragen ließen oder direkt aus dieser Stimmung geboren
wurden, und wiederum Kirchen, die sich im Staate wie Fremdkörper ausnehmen
und sich darin erst zurechtfinden mußten. Die Staatslenker standen und
stehen immer noch vor Problemen, zum Teil vor solchen, die erstmalig zu
lösen sind, und zeigen im Lösen zielbewußtes Geschick.
Dr. G. Th. Masaryk war in der habsburgischen Zeit der heftig verfolgte
Verfasser des "Katecheten-Spiegels", darin die katholische Praxis des
Religionsunterrichtes heftig angegriffen wurde. Ein junger Geistlicher der
Brüderkirche (Herrnhuter) hatte mit Professor Masaryk eine religiöse
Unterredung in jener Zeit, da der Kampf gegen ihn am heftigsten tobte. Er
brachte in der "Christlichen Welt" einen Aufsatz: "Masaryk, eine religiöse
Persönlichkeit". Der Aufsatz erschieri auch im tschechischen "Cas" und hat
den Kampf etwas gemildert. Und Masaryk wurde Präsident des Staates und ist
nach seiner eigenen Aussage ein "bewußtes Glied der evangelischen
Gemeinde". Der politische Katholizismus in der Tschechoslowakischen Republik
hat also schwere Jahre hinter sich, sowohl innerkirchlich als auch im
Verhältnis zum Staat. Auf dem Hradschin eine romfreie Einstellung, das
Feuer des Johann Hus in den tschechischen Massen brennend - aber die
katholische Volkspartei verfügte über einen zielbewußten,
zähen, im stillen arbeitenden Führer in hoher Stellung -, über
Monsignore Sramek, Minister und stellvertretender Ministerpräsident.
Rom büßte seit dem Umsturz wohl 1 1/2 Millionen Seelen ein,
hauptsächlich im tschechischen Volk. Wir werden hören, wohin sie
abfluteten. Es hatte vor dem Kriege einen Grundbesitz von 419.813 Hektar im
Lande inne. Davon wurden 381.703 Hektar unter Zwangsverwaltung gestellt. 1925
waren erst 45.000 Hektar der Bodenreform verfallen. An Wald und Teichbesitz hat
es noch 270.526 Hektar, alle anderen Kirchen sind dagegen arm, bettelarm. Rom
verfügt noch über den Religionsfonds, unter Kaiser Josef II. durch
Wegnahme der aufgehobenen Klöster und auch sonst durch Schenkungen
entstanden. Im Jahre 1925 beliefen sich die Einnahmen daraus auf 4,076.282
Tschechokronen, aber die Erfordernisse betrugen in diesem Jahre 44,540.859
Tschechokronen; das Fehlende mußte der Staat geben, wie jedes Jahr.
Die daraus entstandene Benachteiligung der anderen Kirchen hat der Staat durch
Dotationen zum Teil behoben und neuerdings seit dem Jahre 1926 durch das
sogenannte Kongruagesetz geregelt. Man unterscheidet Kongruakirchen und
Dotationskirchen. Die letzteren erhalten soviel Dotation pro Seele als auf
Kongruakirchen pro Seele als Staatszuschuß entfällt. Der
Religionsfonds ist in den historischen Ländern bei 500 Pfarreien Patron
mit allen Pflichten. Er erhält auch die theologischen Lehranstalten. Der
Religionsfonds für die Slowakei und Karpathorußland ist durch
Verluste an Ungarn sehr geschwächt. Seine Zinsen reichen nicht aus, die
dort liegenden Patronatskirchen zu erhalten. In diesen Ländern sind auch
die evangelischen Kirchen, die griechisch-katholische Kirche und die Juden
Kongruakirchen und darum vom Staat abhängiger als die Detationskirchen,
denn der Staat untersucht durch seine Organe das Einkommen aller Pfarrer der
Kongruakirchen und bestimmt selbst die Zulage. Im Jahre 1926 hat der Staat auf
den Kopf der Bevölkerung nach der Volkszählung von 1921 für
einen Katholiken 5.05 Tschechokronen aufgewendet (abgesehen von der Hilfe aus
dem Religionsfonds), und zwar in den historischen Ländern für einen
Evangelischen 5.96 Tschechokronen, für die lutherisch-slowakische Kirche
in der Slowakei pro Kopf 13 Tschechokronen, für die Juden in der Slowakei
3.87 Tschechokronen, für die reformierte Kirche in der Slowakei 15.40
Tschechokronen, für die tschechoslowakische Kirche in den historischen
Ländern 2.87 Tschechokronen. Dies sollen nur Beispiele sein, denn der
Kirchen sind mehr. Im Verhältnis zum Jahre 1918 hat er im Jahre 1926 um 50
Millionen Tschechokronen mehr gegeben. Für die Kirchenschulen in der
Slowakei und in Karpathorußland hat er im Jahre 1926 60 Millionen
Tschechokronen geleistet. Durch das Kongruagesetz werden die staatlichen
Leistungen ganz wesentlich in die Höhe schnellen. Der endgültige
Schlüssel ist noch nicht errechnet.
Wir geben nun ein kurzes Bild der einzelnen Kirchen. Die
Römischkatholische Kirche ist in 11 Diözesen organisiert. Ihre
Grenzen stimmen mit den Staatsgrenzen durchaus nicht überein. Die
inländischen Diözesen umfassen 3748 Pfarreien, die ausländischen
511. Diese gewiß unerquicklichen Verhältnisse abzuändern war das
Bemühen des auswärtigen Ministers Benesch. Sein "modus vivendi" mit
Rom wurde ein Sieg Roms über den hussitischen Staat genannt, wohl mit
Unrecht. Allerdings brauchen nach ihm die bisherigen Bischöfe den Treueid
nicht zu erneuern. Auch ist eine gewisse Unsicherheit gebfieben, welche
geistlichen Ämter bei ihrer Besetzung vom Staat kontrolliert werden
dürfen, aber der Staat hat seine Forderungen in bezug auf einen Ausgleich
der staatlichen und kirchlichen Grenzen im Prinzipe durchgesetzt.
Die römisch-katholische Kirche mußte den Übergang von der
österreichischen Gesetzgebung zum Revolutionsparlament und dessen
freiheitlicher Gesetzgebung in bezug auf Schule, Eherecht und
interkonfessionelle Verhältnisse recht hart empfinden, zumal als die
katholische Volkspartei noch eine unbedeutende Minderheit war. Klöster in
Prag wurden mit Beschlag belegt, am Altstädter Ring fiel die
Mariensäule (23. November 1918), und am Vorabend des Nepomuk-Tages (15.
Mai 1919) konnten gerade noch amerikanische Legionäre die berühmte
Nepomuk-Statue auf der Prager Karlsbrücke vor einem unfreiwilligen Sturz
in die Moldau bewahren. Der frühere Prager Erzbischof - ein Deutscher -
ging bald nach dem Umsturz.
Ein Teil der Priesterschaft stand auch seinem Nachfolger mißtrauisch
gegenüber. Diese Reformpriesterschaft hatte beim heiligen Vater in Rom auf
Entgegenkommen gerechnet für ihre Wünsche nach Aufhebung des
Zölibates und Einrührung der Muttersprache in den Gottesdiensten.
Kleinlaut kehrten sie von Rom zurück und bald wurde der im stillen
fressende Unwille offenbar. Exkommunikation und öffentliche Lossagung von
Rom folgten rasch aufeinander. Neue Eide, den katholischen Priestern
abgenommen, jetzt endlich eintreffende Zugeständnisse des Papstes zum
Gebrauche der Sprache bei Teilen der Messe und bei Funktionen halfen nicht
mehr. Das Schisma war da in Gestalt der tschechoslowakischen Kirche.
Fieberhaft wurde für sie Propaganda getrieben - in Flugschriften und
Massenversammlungen -, man sagt auch von Amtspersonen. Religiöse Motive
waren bei Gründung dieser Kirche zunächst nicht vorhanden. Einer
ihrer Pfarrer sagte jüngst tadelnd: "Ihr habt sehr viel geredet, aber das
Beten vergessen." Dem modernen Tschechen sollte eine Religion vermittelt
werden, die zurückgehend auf hussitische Überlieferung mit dem
modernen Erkennen und mit moderner Weltanschauung nicht mehr im Widerspruch
steht. Diejenigen Glaubensartikel sollten zum Gegenstand der Reformation
werden, welche die erste Reformation unverändert gelassen hatte. Bei der
Volkszählung des Jahres 1921 hatte diese Kirche schon 437.377 Seelen in
Böhmen, 61.786 in Mähren, 24.069 in Schlesien. Da ohne Kirchen, hatte
man einfach 30 katholische Kirchen zum Teil samt den Pfarrhäusern an
Orten, wo die Anhänger dieser Kirche das Übergewicht über die
katholisch geblichene Bevölkerung erreicht hatten, in Besitz genommen. In
schwerem Rechtsstreit erkämpfte sich die katholische Kirche ihren Besitz
zurück und die tschechoslowakische Kirche mußte ans Kirchenbauen
gehen. Nach und nach wurden 64 kirchliche Gebäude errichtet. Verschiedene
Gemeinden erwarben wenigstens Grundstücke. 32 Millionen waren bald
verbaut, 14 Millionen gab der Staat, eine schwere Schuldenlast drückt die
Gläubigen.
Sie hatte auch mit großen inneren Schwierigkeiten zu kämpfen. Man
neigte zuerst auf Grund des national-slawischen Charakters zur orthodoxen
Kirche, aber nur in Mähren faßte diese Anschauung Fuß. In
Böhmen erschien die orthodoxe Kirche zu unbeweglich und die
tschechoslowakische Kirche hat ja einen mehr protestantischen Anstrich, wie er
etwa in England vertreten ist. Die andere Richtung spaltete sich bald ab durch
Anschluß an die orthodoxe Kirche, die liberale Richtung blieb herrschend.
Die tschechoslowakische Kirche zählt jetzt 203 Gemeinden und
wahrscheinlich weit über 800.000 Seelen, man spricht sogar von einer
Million. Nach dem jetzt erschienenen Glaubensbekenntnis des Bischofs Stejskal
ist schon eine Annäherung der Priester dieser Kirche an die gemeinsamen
Grundlagen der Christenheit, an den Geist des Apostolikums erfolgt, aber jenes
Bekenntnis ist noch durchaus nicht allgemein angenommen. Vielleicht hat die
Teilnahme der tschechoslowakischen Bischöfe an den großen
Weltkonferenzen ihr den Blick vertieft und geweitet. Zu Stockholm machten sie
mit ihrem roten Kelch auf dem Talar Aufsehen. Als im Jahre 1927 zu Prag ein
Kongreß für den Fortschritt in der Religion tagte, haben Professor
Hermelink und Otto die liturgische Neuschöpfung dieser Kirche bestaunt.
Sie ist in der ,,Christlichen Welt" in Nummer 6 des Jahrganges 1928 abgedruckt.
Es ist klar, daß das Vorhandensein dieser Kirche die diplomatischen
Bemühungen um das Zustandekommen eines Konkordates mit Rom recht hemmte.
Ihre Priester bildet die tschechoslowakische Kirche noch an der
Hus-Fakultät aus. Um den Zulauf der Studierenden aus dieser Kirche zu
behalten - es sind da jetzt 151 Hörer -, hat man daran gedacht, die
Fakultät zu einer Fakultät für theologische Wissenscharten
umzugestalten, aber dagegen wehrte sich die bewußte Bekenntniskirche, der
diese Fakultät gehört, die tschechisch-brüderische Kirche. Die
tschechoslowakische Kirche will sichtlich von dem evangelischen Einfluß
los, um sich selbst treu bleiben zu können. Man hört das Wort: "Wir
lassen uns von den Römischen und den Brüderischen nicht unter die
Evangelischen stecken".
Die tschechischen Altkatholiken haben sich dieser Kirche angeschlossen, sind in
ihr aufgegangen, während die deutschen Altkatholiken, etwa 23.000 Seelen,
im Isergebirge, im Warnsdorfer Gebiet und in Mähren unter einem eigenen
Bischof bald nach dem Umsturze eine selbständige Kirche bildeten. Die
Übertritte zu ihr sind nicht groß. Diese Bewegung ist ziemlich zum
Stillstand gekommen. Die Kirche aber wächst doch sichtlich durch die
Einigung unter einem Haupte jetzt mehr zusammen.
Eine ähnliche Einbuße, wie die römisch-katholische Kirche durch
das Erstehen der tschechoslowakischen Kirche erlitt, erfuhr die
griechisch-katholische Kirche. War sie auf dem Gebiete des Staates einst
entstanden durch die Bemühungen Roms, das orthodoxe Volk für die
kirchliche Einheit zurückzugewinnen (um die Mitte des 17. Jahrhunderts),
so erinnerte sich das Kirchen volk nach dem Umsturze des slawischen Charakters
des orthodoxen Glaubens und es erfolgte ein imponierender Exodus aus der
griechisch-katholischen Kirche zum orthodoxen Glauben. Ihre Seelenzahl
verminderte sich von 591.771 im Jahre 1910 auf 535.450 im Jahr 1921, in
Karpatho-Rußland und in der Slowakei sank sie von 198.713 auf 193.735.
Seither ist dieser Abfall auf 100.000 gestiegen.
Wieder eine Auswirkung der Errichtung der Republik auf kirchliche
Verhältnisse. In den historischen Ländern sind wenig Bekenner dieser
Kirche. Sie ist da auch nicht organisiert, obwohl von früher her
anerkannt. Eine gewisse Hinneigung der griechisch-katholischen Priester nach
Ungarn und die noch übliche Robotpflicht für die
Pfarrgrundstücke mögen neben den erwachenden slawischen
Bewußtsein den Abfall gefördert haben.
Die Neigung der Tschechen zu den Russen ist bekannt, dennoch war das orthodoxe
Bekenntnis, das Hauptmerkmal der Slawen, vor dem Kriege in der
Tschechoslowakischen Republik gering vertreten. Prager orthodoxe Pfarrer
dienten in den Badeorten Westböhmens den orthodoxen Badegästen. In
Prag gehörte diesem Bekenntnis die Nikolaus-Kirche an, welche die
tschechoslowakische Kirche übernommen hat, weil die orthodoxe Gemeinde
sich im Kriege auflöste. Die Orthodoxen von Böhmen unterstanden
über Wien und Zara dem Metropoliten von Czernowitz. Für die
Organisation des so stattlich angewachsenen orthodoxen Bekenntnisses bei den
Klein-Russen in der östlichen Slowakei und in Karpatho-Rußland liegt
ein Hemmnis vor. Wer nämlich soll dieser Kirche die Autokephalie, die
Selbständigkeit, verleihen? Das Gebiet gehörte früher zum
Metropoliten von Karlowitz. Dieses kam nach Jugoslawien und die kirchliche
Würde des Metropoliten von Karlowitz wurde mit dem Patriarchat von Belgrad
in eins verschmolzen. Also hat über die Orthodoxen im Osten der
Tschechoslowakischen Republik Belgrad zu entscheiden, aber die Orthodoxen in
Prag oder in Böhmen und Mähren sehen ihr Oberhaupt im Patriarchen von
Konstantinopel, weil mit der Auflösung der österreichisch-ungarischen
Monarchie die orthodoxe Kirche dieses Landes erloschen sei. So hindert der
Streit im Lager der orthodoxen Kirche ihre Organisation. Nach der
Volkszählung von 1921 zählte sie 73.097 Seelen. 1910 waren es nur
30.600. Sie wird vom Staat unterstützt im Verhältnis zu den anderen
Kirchen.
Wir kommen nun zu einer Kirche, die auch den Anspruch erhebt, die ideale Kirehe
des tschechischen Staates zu sein, der ja auch die alten religiösen
Verhältnisse der böhmischen Nation zu erneuern versprach in Bezug auf
das Seelenleben. Es ist die tschechisch-brüderische Kirche. Sie hat jetzt
das historische Häuschen in Kunwald in Ostböhmen gekauft, wo einst
die ersten Versammlungen der Brüder stattfanden, um so an eine echt
brüderische Tradition anzuknüpfen. Ihr gehört der Präsident
des Staates an.
Die nationale religiöse Bewegung eines Hus hatte im tschechischen Volke
die utraquistische Bewegung hervorgerufen. Durch Verinnerlichung entwickelte
sich daraus die Brüder-Unität. Beide durch Luther und Calvin
beeinflußt, vereinigten sich auf Grund der böhmischen Konfession
(1575) zu einer Kirche (1609) und erzwangen den Majestätsbrief und damit
Religionsfreiheit. In der Schlacht am Weißen Berge 1620 ging diese
verloren. Exulantenscharen ergossen sich nach Sachsen und ins weitere
Deutschland. Aber als das Toleranzpatent (1781) verkündet wurde, standen
bald 70.000 Bekenner des evangelischen Glaubens auf und entschieden sich
entweder für das helvetische oder augsburgische Bekenntnis, wohl deshalb
die meisten für das helvetische Bekennntnis, weil die wenigen Prediger,
die man berufen konnte, aus Ungarn kamen. Andere hätten sich in der
Sprache der Gemeinden nicht zurechtgefunden. Schon in den Jahren 1848, 1863,
1903, 1907 waren die tschechischen Evangelischen bemüht, sich als Erben
der Brüder und des Hus mit eigenem Bekenntnis aufzutun, aber man scheute
die Schwierigkeiten, die mit dem Aufbau einer besonderen Kirche verbunden
gewesen wären. An und für sich hätte die Gesetzgebung des Jahre
1874 dies zugelassen. Auch hätte der katholische Staat eine
brüderisch gerichtete Kirche mit Mißgunst beobachtet und die
Staatsunterstützung wäre ausgeblieben, die den Augsburgem und
Helveten längst zuerkannt war.
Diese Rücksicht fiel mit dem Umsturz. Im Gegenteil war jetzt ein
Bekenntnis zu den Brüdern und zu Hus das Gegebene und dem Staate
willkommen. So schlössen sich die Evangelischen des augsburgischen und
helvetischen Bekenntnisses zusammen auf Grund der brüderischen Konfession
vom Jahre 1575 und nannten sich tschechisch-brüderische Kirche. Ein
angesehener Geistlicher der reformierten Kirche, Karafiat, hat eine Schrift
veröffentlicht, worin er diesen Zusammenschluß einen schweren Fehler
nennt und sagt: Es seien mehr als Siebentausend, die ihre Knie nicht gebeugt
haben, er sei immer noch reformiert. Andererseits gibt es auch viele Lutheraner
in Ostschlesien und an der mährischen Grenze, die ihr Bekenntnis nicht
aufgeben und sich weiter als Lutheraner fühlen, obwohl sie tschechisch
sind.
Von den innergemeindlichen Streitigkeiten, die infolge der Union der
tschechischen Evangelischen an einzelnen Orten entstanden, wäre manches zu
sagen, so über Mitbenützung oder Mitbesitz der früher
gemeinsamen Kirche oder Unzukömmlichkeiten an Sonntagen in solchen
Gemeinden, wo für die aus einer entstandenen verschiedenen Gemeinden zwei
oder drei verschiedensprachige Gottesdienste bei einer Länge von 2 bis 3
Stunden an einem Vormittag Platz haben sollen.
Die tschechisch-brüderische Kirche steht mit der tschechoslowakischen
Kirche in guter Fühlung. Sie hat mit ihr gemeinsam große Ansprachen
an das Volk gehalten, oft auf Höhen, und hat 90.000 Seelen von Rom
gewonnen. Ihre Führer stehen in lebendiger Fühlung mit dem
ausländischen Protestantismus, zumal mit dem des reformierten Typus. Um
dieser Kirche, um ihres großen Zuwachses, aber auch um der von ihr
getriebenen Propaganda willen kommen immer wieder einzelne Ausländer und
Deputationen des Auslandes nach Prag, um Einblick zu gewinnen in den
Religionsfrühling des tschechischen Volkes. Die
tschechisch-brüderischen Theologen haben von jeher schon gute Beziehungen
zum Ausland gehabt.
Die Laienmitarbeit ist bei den tschechischen Brüdern bedeutend. Sie
bringen sich auch neben dem Geistlichen stark zur Geltung, sie haben wohl oft
das Übergewicht. Die Sonntagschularbeit ist über das ganze Land
ausgedehnt, man zählt 241 Sonntagschulen. Die kirchliche Jugendbewegung
zeigt schöne Erfolge, sie ist mit der Ymca-Bewegung verbunden, aber ihr
nicht untergeordnet. Die tschechisch-brüderische Kirche will sich der
Mission unter den Mohammedanern in Bulgarien und Südslawien annehmen. Sie
hat auf Anstoß der Konstanzer Union (einem Gegenstück zum
"Evangelischen Bund" in Deutschland, seinem Antipoden in ihrer Haltung, die
sich manchmal an reichsdeutsch-kirchlichen Verhältnissen reibt, wenigstens
in seinem Organ, den "Konstanzer Funken") die Gründung eines evangelischen
Kirchenbundes in Szene gesetzt, auch schon einen ersten evangelischen
Kongreß zu Preßburg abgehalten (Juli 1928). Die deutsche evangelische
Kirche und die frei reformierte Gemeinschaft haben sich dem Kirchenbund noch
versagt, wohl weil er noch ein ausgesprochen nationales Gepräge
trägt. Als Gast war die deutsche evangelische Kirche schon einige Male bei
solchen Versammlungen dabei. An die Stelle des Gustav-Adolf-Vereines, dem die
Kirche früher angehölte und von dem sie viel Hilfe erfuhr, ist der
Hieronymus-Verein getreten. Diese Kirche will nun dem tschechischen Volk das
Erbe des Comenius vermitteln helfen, der der sterbenden Unität als ihr
letzter Bischof im Exile zurief: "Lebe, o Volk, von Gott geweiht, stirb nicht!"
Die tschechisch-brüderische Kirche zählte 1928 149 Pfarrgemeinden, 25
Filialen, 192 Predigtstellen, hat aber nur 112 Pfarrer, 20 Vikare und 15
Diakonen bei 253.000 Seelen. An sozialen Einrichtungen hat sie außer
verschiedenen Anstalten der Inneren Mission, die zum Teil schwer um ihren
Bestand ringen, eine evangelisch-soziale Zentrale für Stellenvermittlung
in Prag, eine evangelische Gesellschaft für christliche
Wohltätigkeit, eine Genossenschaft für soziale Aufgaben der
tschechisch-brüderischen Kirche.
Durch den Umsturz erloschen die Beziehungen des Wiener evangelischen
Oberkirchenrates zu den deutschen Evangelischen in den Sudetenländern. So
mußten diese sich mit zwei Superintendenzen und dem Bruchstück einer
solchen im Osten zu einer selbständigen Kirche zusammenfassen. Man ging
unverzüglich ans Werk. Am Gründungs-Kirchentag zu Turn, wo die
prächtige Kirche, das Denkmal der Los-von-Rom-Bewegung steht, baute sie
sich aus UrwahTen auf und legte die völkischen Grundlagen. Wo alle Kirchen
sich national zusammenfaßten, mußte auch sie es tun. Die deutschen
Evangelischen freuten sich über das Wort des Staatspräsidenten: "Die
Deutschen sind keine Minderheit bei uns, sondern ein organischer Bestandteil
des Staates." - Sie ordnen sich in den Staat ein, aber im vollen
Bewußtsein ihrer Volkszugehörigkeit und ihrer Sendung für
Frieden und Ordnung. Im Schulministerium fiel einmal das Won: "Bei den
Deutschen ist immer Ordnung."
Am zweiten Kirchentag stellte sich die deutsche evangelische Kirche auf das l u
. iberische Bekenntnis und nahm eine Verfassung an, wobei die alte Verfassung
der österreichischen evangelischen Kirche ihr Bestes dazu hergab. Der
Staat redete nicht viel hinein, nur verlangte er die Beschränkung der
Kirche auf Böhmen, Mähren und Schlesien und ließ in der
Kirchenverfassung nur die Festlegung der deutschen Kirchen- und
Unterrichtssprache zu, nicht auch der Amtssprache. Die Deutsche Evangelische
Kirche, 123.000 Seelen zählend, hat 65 Gemeinden, 36 Filialgemeinden, 102
Predigtstellen, 84 Geistliche. Bodenständig sind diese deutschen
Evangelischen in größerer Anzahl nur im Ascher Ländchen und im
Teschener Gebiet. Sonst sind sie durch die Entwicklung der Industrie
herangewachsen, freilich stark vermehrt und gewaltig belebt durch die
evangelische Bewegung seit dem Jahre 1897. Sie hat seit jener Zeit unter den
katholischen Deutschen viele Freunde.
Vom Staat erhält die Kirche wie die tschechisch-brüderische eine
Dotation nach dem Kongruagesetz von 626.000 K und auf Grund des alten
Protestantenpatentes 340.000 K pro Jahr. Selbst bringt sie 4 Millionen
jährlich auf durch die Selbstbesteuerung der Gemeindemitglieder, was bei
dem Umstande, daß ringsum das katholische Volk von Kirchensteuern frei
ist, ein Opfer bedeutet. Die Aufnahme der großen Preßburger deutschen
Gemeinde oder gar der etwa 40.000 deutschen Evangelischen der Slowakei (der
Zips) wurde von der slowakisch-lutherischen Kirche verhindert und war wohl auch
der Regierung nicht genehm. Der Anschluß von Asch, einer Gemeinde mit
stolzer evangelischer Vergangenheit, in die kein Schatten der Gegenreformation
fiel, erfolgte zögernd. Die starke Gemeinde Teschen, die Mutter des
österreichischen Protestantismus, kam erst zur deutschen evangelischen
Kirche, als es klar wurde, daß die polnischen Evangelischen in
Ostschlesien eine eigene Kirche bilden und den Anschluß an die deutsche
evangelische Kirche nicht vollziehen wollen. Die Deutsche Evangelische Kirche
ist für den Nationalstaat, den die Tschechoslowakei doch darstellen will,
gewiß wie ein Fremdkörper. Die Sprachenverordnung hat auch auf sie
wenig Rücksicht genommen, was bei der kirchlichen Matrikelführung zu
Konflikten führt. Viele Rekurse warten auf die Entscheidung des Obersten
Verwaltungsgerichtes, das feststellen soll, ob Pfarrer, die der tschechischen
Sprache unkundig sind, in die Kirchenbücher, die den Gemeinden
gehören und nur dem Staat auch zu Diensten stehen, aufgetragene
Nachträge über Legitimierungen oder Ehetrennungen in "tschechischer"
oder "deutscher und tschechischer" Sprache eintragen müssen. Einer hat
einen solchen Auftrag mit den Worten erledigt: "Ultra posse nemo obligatur" und
er hatte weiterhin Ruhe. Aber nicht alle unteren Instanzen sind so einsichtig.
Im Osten gehören dieser Kirche auch vier gemischtsprachige Gemeinden an
mit deutschen und slonsakischen Glaubensgenossen. Die Slonsaken sind den
Deutschen gegenüber freundlich eingestellte Polen. Die Pfarrer predigen in
diesen Gemeinden deutsch und polnisch. Das lutherische Bekenntnis schlingt um
beide Teile ein festes Band. Auf dem dritten Kirchentage hat die deutsche
evangelische Kirche die Werke der inneren Mission gefördert und die
Pensionsanstalt durch entschlossenen Opferwillen auf laufende Zahlungen der
Gemeinden aufgebaut, so daß ein Pfarrer im Vergleich zum früheren
kläglichen Ausmaß doch eine Pension von 18.000 K beziehen kann.
Die Kirchenleitung dieser Kirche hält freundliche Fühlung mit den
anderen evangelischen Bekenntnissen. Dazu hat die frühere gemeinsame
Geschichte und die gegenwärtige Weltallianzarbeit die Brücke
geschlagen. In Ostschlesien sollte durch Plebiszit entschieden werden, ob
Teschen zur Tschechoslowakei kommen soll oder zu Polen. Es kam zur
Zerreißung der Stadt. Die große evangelische Gnadenkirche kam zu den
Polen, aber 8000 Evangelische kamen auf die tschechische Seite. Jetzt sind dort
drei Gemeinden desselben lutherischen Bekenntnisses entstanden, ein Unikum: die
tschechisch-brüderische Gemeinde des Augsburger Bekenntnisses, die
deutschslonsakische und eine rein polnische. Die deutsch-slonsakische hat den
Regierungsakt, womit die polnische Gemeinde auf ihrem Territorium anerkannt
wurde, angefochten. Das Gebiet der übrigen ostschlesisch-polnischen
Gemeinden wurde bis zum Jahre 1923 noch von Wien aus kirchlich regiert. Nunmehr
ist die selbständige o s t schlesische Kirche erstanden und anerkannt. Sie
umfaßt 40.000 Seelen in nur sechs Gemeinden. Man wollte den Polen diese
Selbständigkeit lassen und hofft dabei wohl, daß viele ihrer Glieder
sich nach und nach zur tschechischen Nationalität werden
hinüberführen lassen durch Erziehung der Jugend in den tschechischen
Schulen.
Nicht staatlich anerkannt sind einige Ableger ausländischer Kirchen, die
ein starker religiöser Eifer auszeichnet. Sie bemühen sich aus
Prinzip nicht um die staatliche Anerkennung, sind gering an Zahl, aber
opferwillig. Sie blühten auf, solange Amerika Hilfe reichte.
Gegenwärtig scheinen diese Neugründungen in finanzielle Not zu
kommen. Zwei davon legten sich den Brüdernamen bei, weil er zog, so die
tschechisch-brüderische Unität (die Kongregationalisten oder
Freireformierten) 6000 Glieder in 30 Gemeinden, und die Brüder-Unität
der Chelcicky-Baptisten, in 25 Gemeinden mit 29 Kapellen und 27 Predigern. Sie
zählt 5000 Seelen, weil man nur die Erwachsenen zählt. Auch diese
Gemeinschaft hat durch nationale Belebung tschechisch-religiöse
Anschauungen aufgenommen. Die Methodisten haben etwa 10.300 Seelen gewonnen und
arbeiten an 42 Versammlungsstätten. Sie entfalten eine große
Propaganda in Wanderzelten, auch durch ihre Studenten. Die Adventisten kommen
öfters mit dem Staate in Konflikt wegen Militärdienstverweigerung und
Schulbesuchverweigerung für die Kinder am Samstag. Während die
tschechisch-brüderische Kirche, weil westlich orientiert, mit den kleinen
Kirchen in ziemlicher Fühlung ist, sieht die slowakische und magyarische
Kirche in ihnen noch Sekten wie vor dem Kriege. Die Heilsarmee gewann freien
Zugang. Früher nur in Gablonz vertreten und da oft angefochten, konnte sie
sich in Prag frei entwickeln, aber es wurde etwas anderes aus ihr. Als die
Tschechen diese religiöse Richtung aufnahmen, schlug auch das Nationale
durch, es gab oft einen Wechsel in der Leitung, die von auswärts kam.
Alles religiöse Leben bekam nach dem Umsturz in diesem Lande eine gewisse
nationale Schärfe ins Blut.
Der Brüdername, den drei oder vier Religionsgemeinschaften für sich
in Anspruch nahmen, gehört einer mit vollem Rechte zu, nämlich der
Brüder-Unität (Evangelische Brüder-Kirche), die auf Zinzendorf
zurückgeht. Freilich, die Tschechen sagen, die Herrnhuter hätten in
der deutschen Umgebung jene Seiten des alten Brüdertums verloren, um
derentwillen es bei den Tschechen so sehr geschätzt wurde. Diese
Brüder des alten Gepräges im Stile des Grafen Zinzendorf hatten es
nicht immer leicht, sich hierzulande selbst treu zu bleiben bei den
gärenden Verhältnissen und unter den nationalen Schibolets, die
ringsum ertönten. Auch diese Kirche hat sehr gewonnen, 1910 waren es 892
Seelen, heute sind es 7000, darunter 500 Deutsche. In der Los-von-Rom-Bewegung
war sie zurückhaltend, heute ist sie weitherziger. Als die Deutschen ihre
Zeit hatten, konnte sie nicht wachsen. Die Tschechen durften, als ihre Zeit
kam, die Tore weit aufmachen. So ist diese Kirche tschechisch geworden. Der
Bevollmächtigte von Herrnhut führt sie im Inlande zusammen mit dem
"Engen Rat".
Die Schwierigkeiten, welche das Zusammenleben der Slowakei mit den historischen
Ländern anfangs machte, sind bekannt. Sicherlich haben die
slowakischlutherischen Kirchenführer sich den Dank der Regierung verdient,
weil sie immer offen für den Zentralismus eintraten. Diese Kirche hat eine
gewaltige Rechtsbeschränkung freiwillig auf sich genommen, als sie sich
unter die Kongrua-Kirchen aufnehmen ließ, aber sie will mit dem Staate eng
verbunden sein. Das sprach einer ihrer Wortführer zum Erstaunen des
westlichen Protestantismus zu Kopenhagen anläßlich einer
Weltallianztagung aus. Als der letzthin verstorbene Bischof Zoch von Modern die
Sokoin aus seiner Heimat (Turner) zum Präsidenten Masaryk führte,
empfing ihn dieser mit den Worten: "Es freut mich sehr, daß gerade du die
slowakischen Sokofn repräsentierst. Das Wort Gottes mit den
Bemühungen um die Gesundheit des Körpers zu vereinigen, das, glaube
ich, habt ihr Slowaken und haben wir Tschechen gleich nötig." Der jetzige
Unterrichtsminister ist ein Glied der slowakisch-lutherischen Kirche. Daß
er mit der Kirche fühlt, geht aus der Ansprache an die Weitallianz zu Prag
hervor, die er im August 1928 hielt und wo er unter anderem sagte: "Es ist eine
tiefbeglückende Erscheinung, daß die Kirchen die Methode der
Kontemplation verlassen und in die moralischen Menschheitsprobleme im Sinne
einer lebendigen und ewigen christlichen Moral eingreifen wollen."
Die slowakisch-lutherische Kirche mußte sich nach der Abtrennung von
Ungarn eine neue Organisation schaffen und tat es, indem sie, ohne die
deutschen Gemeinden und Pfarrer zu fragen, sich an die Regierung mit dem
Vorschlag wandte, die alte Organisation als aufgelöst zu erklären und
eine provisorische Leitung von ihr aus einzusetzen - unerhört in der
Tradition dieser Kirche, die, wie in Ungarn alle Kirchen, auf ihre Autonomie
immer so stolz war. Der Unwille über diese Vorgänge veranlaßte
die Deutschen von Preßburg und Umgebung, sich der deutschen evangelischen
Kirche anzuschließen. Aber als die bedeutende Staatsunterstützung
durch 3/4 Jahre nicht mehr floß, als Pfarrer, Professoren und Lehrer
umsonst darauf warteten, brach der Widerstand. Das Schulministerium in Prag hat
die Sperrung der Gelder nicht veranlaßt, sie geschah seitens des
Schulreferates in Preßburg, wohl im Einvernehmen mit den
slowakisch-lutherischen Kirchenführern. Man unterwarf sich dem neuen
Regime. Die Deutschen wurden einigermaßen befriedigt, indem sie nach
einiger Zeit drei deutsche Seniorate erhielten, also besondere Einheiten, auch
kann sich ihr Volkstum in der Kirche freier entfalten als in der ungarischen
Zeit. Sie haben wieder ihre deutsch-evangelischen Volksschulen, einen deutschen
Lehrstuhl an der theologischen Akademie zu Preßburg und ihren deutschen
Pfarrerverein, wo sie ihre ureigensten geistlichen Belange erörtern und
fördern können. Beim General konvent und bei den Distriktskonventen
kommen sie mit ihrer Sprache zu kurz. Auch die Niederschriften der
Verhandlungen werden ausschließlich in slowakischer Sprache versendet. Die
deutschen Theologie-Studierenden müssen drei Jahre in Preßburg
studieren, also die theologischen Fächer bis auf die praktischen in
slowakischer Sprache hören. Diese Kirche zählt 310 Gemeinden, zwei
davon in Karpathenrußland. Sie hat 384.695 Seelen nach der
Volkszählung des Jahres 1921, davon in Karpathenrußland 2267. Durch
Auswanderung hat sie seit dem Jahre 1910 wohl 20.000 Seelen verloren. Das
religiöse Leben ist noch altväterlich und fromm. Außer den
40.000 Deutschen gehören zu dieser Kirche noch 20.000 Magyaren, das andere
sind Slowaken. Im nationalen Empfinden gibt es hier Verwaschungen und
Übergänge, die dem westlich orientierten Menschen unverständlich
bleiben. Erzbischof Söderblom von Schweden war jüngst in Modra zur
Einführung des Bischofs Fajnor, er schenkte beiden Bischöfen der
Kirche je ein goldenes Kreuz. Sollte vielleicht auch die successio apostolica
verliehen werden? Diese Kirche will die Anstellung eines evangelischen Experten
im Schulministerium betreiben.
Wir kommen zur letzten Kirche, der magyarisch-reformierten. Sie liegt dicht an
der ungarisch-slowakischen Grenze, zählt etwa 200.000 Magyaren und 10.000
Slowaken, sie hat 290 Pfarrer und 242 Kirchenschulen. Sie kann die magyarische
stolze Vergangenheit schwer vergessen, ließ den Zusammenhang mit der alten
reformierten Kirche Ungarns nur ungern fallen und fand mit dem Entwurf ihrer
neuen Kirchenverfassung nicht den BeifaD der Regierung. Das
Verfügungsrecht über die konfessionellen Schulen ging ihr so gut wie
verloren, aber ihre Lehrer erhalten einen Staatszuschuß, der auffallend
groß ist, größer als der, den die Pfarrer bekommen. Etwa 40
Pfarrern wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, weshalb die
Staatsunterstützung für sie wegfiel, das gleiche war der Fall bei
vielen Lehrern. Ein Pfarrerbildungsinstitut, das diese Kirche sich errichtete,
weil abgeschnitten von den vielen früheren Ausbildungsstätten in
Ungarn, sollte wieder gesperrt werden, um als theologische Akademie mit
staatlicher Genehmigung und Unterstützung wieder aufzuleben. Diese Kirche
vermißt ein reformiertes Gymnasium und eine Lehrerbildungsanstalt. Es
fehlt ihr auch an evangelischer Literatur, auch darin ist sie von Ungarn
abgeschnitten. Vom Standpunkte des Staates versteht man es, daß er diese
nationalbewußte Kirche vom temperamentvollen Ungarn abschnürte. Vom
Standpunkt der Kirche kann man sagen, daß sie sich unfrei fühlt. Eine
Richtung in ihr sucht freundliche Beziehungen zur tschechisch-brüderischen
Kirche und ist auch zu Zugeständnissen an den Staat bereit. Die Kirche hat
drei Bischöfe, zu Preßburg, Groß-Staffelsdorf und Munkacs. Die
Bildung eines selbständigen slowakischen Seniorates im Kaschauer Distrikt
fiel ihr sehr schwer, aber sie brachte das Opfer nach dem reformierten
Grundsatz: "Alles Recht geht von den Gemeinden aus."
Auch beim Judentum in der Tschechoslowakischen Republik könnte
nachgewiesen werden, daß es durch den Umsturz zum Teil in die Arme des
Tschechentums herumgeschwenkt wurde. Als Gastvolk mußte es besser fahren,
wenn es sich sprachlich zur herrschenden Nation bekannte. Zu starker Entfaltung
kam durch die freiheitliche Gesetzgebung im Staate die freireligiöse und
antikirchliche Bewegung. Die Volkszählung von 1921 zählte in
Böhmen schon 658.084 Konfessionslose, in Mähren 49.036, in Schlesien
9405, in der Slowakei 6818, in KarpathoRußland 1174. Heute sind es sicher
schon über 900.000. An den tschechischen Volksschulen sind heute 49,2% der
Lehrerschaft katholisch, 34,5% konfessionslos. An den Bürgerschulen sind
43,5% katholisch und 40,8% konfessionslos. Bei den deutschen Volksschulen sind
95,4% der Lehrer katholisch und nur 0,4% konfessionslos. Von diesem großen
Staubecken der Konfessionslosen fließen Rinnsale ab in die evangelische
und in die tschechoslowakische Kirche. Es suchen eben viele eine kirchliche
Heimat oder werden von lebendigen Kirchen angezogen. Auch deutsche
Konfessionslose kommen in ziemlicher Anzahl zur deutschen evangelischen Kirche.
Im Lande der Bibel und des Kelches wurden in den letzten 30 Jahren und in der
tschechischen Welt in den letzten zehn Jahren die religiösen Fragen
lebhaft erörtert, und wenn drüben im Reich ein Buch erschienen ist
mit dem Titel "Das Jahrhundert der Kirche" von Otto Dibelius im Furche-Verlag,
Berlin, so hat die Tschechoslowakische Republik ein Jahrzehnt dieses
Jahrhunderts ganz gewiß hinter sich. Überblickt man das kirchliche
Leben in der Tschechoslowakei bei einer Million Evangelischer, einer Million
von Rom abgespaltener Tschechoslowaken, die eigentlich evangelischen
Anschauungen nahestehen, und nimmt man dazu eine weitere Million der
freiheitlichen konfessionslosen Menschen und weiter die Tatsache, daß die
katholische Kirche im natürlichen Gegensatze zum hussitisch-einseitigen
Aufbau des Staates steht, so gewinnt das Wort des tschechischen
Philosophieprofessors Radi der Karls-Universität in Prag, eines
Führers in der Ymca-Bewegung, Bedeutung, der in seinem Buche "Kampf
zwischen den Tschechen und den Deutschen" sagt: "Jeder vernünftige Mensch
gebe zu, daß die kulturelle Autonomie der Deutschen unausweichlich ist."
Und wenn das kommt, haben daran die Kirchen sicher ihr Verdienst, die Kirchen,
die alle um die Palme der Gerechtigkeit und des Friedens ringen müssen,
dazu sie berufen sind.
Vortrag am 14. April 1929 in Bodenbach, in: Deutscher Glaube, Eine
Monatsschrift für die deutschen evangelischen Gemeinden in den
Sudetenländern 1929/228ff, zit. nach O. Sakrausky, IV, 11-20