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Volksschule vor acht JahrzehntenIn memoriam Deutsche Evangelische Schule in der Prager NeustadtWie Vieles andere ist auch unsere alte Schule den sich 1945ff ereignenden mancherlei unrühmlichen Ausbrüchen tschechisch-nationaler Begeisterung zum Opfer gefallen. Damit teilte sie das Schicksal zahlreicher anderer in Prag gewachsener kultureller Institutionen, die allesamt "nicht gerade schlecht" gewesen waren. Inzwischen nimmt die Anzahl jener, welche aus persönlicher Erinnerung vom Vorkriegsstand der Dinge zu berichten vermögen, ständig ab. Deshalb sei hier noch einmal der Versuch unternommen, unserer untergegangenen "Gerbergassen-Schule" (V jircháøích) ein sicherlich nicht grandioses Monument, wohl aber ein bescheidenes Gedächtnis-Marterl zu errichten! Im Vergleich mit Erinnerungen früherer Schülergenerationen zeigt sich, daß, bedingt durch Veränderungen des jeweiligen öffentlichen und persönlichen Umfelds, eigentlich jede Generation über eine "eigene" Schule berichtet. In diesem Sinne folgt nun ein auf das Jahrfünft 1929-1934 bezüglicher Bericht. Ihm sind einleitend noch einige kurze Allgemeininformationen vorangestellt. Daß sich die in Mitteleuropa beheimateten Religionsgemeinschaften einer (auch Mädchen zugänglichen!) allgemeinen Wissensvermittlung an ihre Jugendlichen annahmen, ist seit den Tagen der Reformation eine von den geistlichen Instanzen aller Parteien empfohlene und - jedenfalls in den Städten - engagiert praktizierte Errungenschaft. Darin bildete auch die nachmalige Deutsche Evangelische Gemeinde A.B.u.H.B. (Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses, d.h. Lutheraner und Reformierte) keine Ausnahme. Sowie ihnen durch das Toleranzpatent (13. Oktober 1781) von Kaiser Josef II. das offizielle Exerzitium ihres Glaubens - freilich mit gewissen Einschränkungen - ermöglicht worden war, galt ihre dringendste Sorge der Erwerbung kirchengemeindlich nutzbarer Räume, nämlich Kirche, Pfarrhaus, Schule. Letztere konnte man in Gestalt zweier kleiner Häuschen an der Ecke Opatowitzer-/Gerbergasse erwerben. Sie wurden um- und ausgebaut, endlich am 6. November 1827 als Schule eingeweiht. Sie lag besonders günstig gegenüber der 1787 geschlossenen und 1789 den deutschen Evangelischen zugewiesenen ehemaligen Pfarrkirche St. Michael der einstmaligen Siedlung Opatovice, und ist Schauplatz alles nachfolgend zu Berichtenden. Für den Unterrichtsbetrieb ist zu unterstellen, daß das von Kaiser Franz-Josef I. im Jahre 1861 erlassene Protestantenpatent auch für die Arbeit unserer Schule gewisse Erleichterungen brachte. Im wesentlichen aber unterlag auch sie dem kaiserlichen Privatschulrecht vom 25. Mai 1868, bzw. dem Reichsvolksschulgesetz von 1869. Später den tschechoslowakischen bzw. Protektoratsbestimmungen. Konkrete Einzelheiten über die formal-rechtlichen Aspekte des Schulbetriebs, insbesondere auch das Zusammenspiel von Kirchengemeinde und Schulleitung, Schulleitung und staatlicher Schulaufsicht, Finanzierung und Lösung technischer Fragen etc. sind mir nicht bekannt. Sie betreffen aber auch nicht den Interessenhorizont von uns damals 6-10 Jährigen. Ungeachtet der von ihm überstandenen mehrfachen baulichen Veränderungen, bietet das Schul- und Gemeindehaus einen geschlossenen Anblick. So jedenfalls der an der Gerbergasse gelegene Schulteil mit Klassen-, Konferenz- und Sammlungsräumen samt dem im Keller gelegenen Turnsaal. Im Vergleich dazu wirkt der für Pfarramt, Gemeindesaal, Besprechungszimmer, Büroräume und Wohnungen genutzte, in einem 90°-Winkel angeschlossene, Ostteil unharmonischer, beinahe wie ein ,,ewiges" Provisorium. Doch nun zu Einzelheiten. Den Zugang ins Haus bietet ein gewaltiges Tor mit breiter, holzdielengepflasterter Einfahrt. Die hellgestrichenen Seitenwände tragen Bibelzitate. Eines zitiert Hebr 13,7: "Gedenket an Euere Lehrer, die Euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach!" Zum Text der Gegenseite muß der Referent mit Bedauern bekennen, ihn vergessen zu haben. Hinter der Einfahrt liegt der Hof. Er ist als klassischer Schulhof allerdings niemals benutzt worden, denn uns stand etwas viel Besseres zur Verfügung. Links der Einfahrt wohnte der im Postdienst tätige Schuldiener, Herr Tillmann, mit seiner Familie. Diese war zeitweilig in die Schulmilchausgabe, sowie Reinigungs- und Pflegearbeiten eingebunden. Allerdings hat sie niemals vom quasi erblichen Privilegium aller Schuldiener, dem inoffiziellen Handel mit Kleinsüßwaren, Gebrauch gemacht. Vorbei an Tillmanns Wohnung führte etwa ein Dutzend Treppen hinab zum Eingang in den Turnsaal. Vermöge unmittelbar unter der Hallendecke angebrachter, der Außenfassade angepaßter großer Fenster, war er mit Tageslicht benutzbar. Bei der Einrichtung hatte Turnvater Jahn zwar nicht mitgewirkt, wäre aber dennoch mit den Details einverstanden gewesen. Es gab senkrecht und schräg nutzbare Leitern, Kletterstangen, Kletterseile, Reck, Barren, Matten, Rundlauf; dazu als Errungenschaft der Dreißiger Jahre eine schwedische Sprossenwand. Dies alles wurde recht fleißig benutzt, nicht jedoch die als total veraltet belächelten vielleicht 50 Paare Hanteln verschiedener Gewichte. Wer sich von der Einfahrt nach rechts wandte, sah im Hintergrund einige Wohnungs- und Bürotüren, vor allem aber die dem Hausgrundriß angepaßte, nach oben führende, etwa einen Viertelkreis überwindende Steintreppe. Im ersten wie im zweiten Stockwerk lagen rechts der Kirchengemeinde dienende mancherlei Säle, Zimmer, Wohnungen. Links war jeweils ein Gang mit Kachelfußboden, großen Fenstern und Klassenzimmertüren. Diese waren bestimmten Klassenstufen fest zugeteilt und wurden im Laufe der Schulzeit von allen Schülern systematisch durchwandert. Das jeweilige unterrichtliche Arbeitspensum der einzelnen Klassen richtete sich offenbar nach den Vorgaben der staatlichen Lehrpläne. Ebenso die vorgeschriebenen Lehrbücher; diese waren gesamtstaatlich einheitlich. Die Schulaufsicht oblag einer staatlichen Behörde, in unserem Falle dem "Deutschen Landesschulrat". Unsere Lehrer hatten mindestens die (von der ÈSR wie auch den übrigen "Nachfolgestaaten" von der k.u.k. Monarchie übernommene) hervorragend bewährte Ausbildung an speziellen Lehrerbildungsanstalten genossen. Sie hatten an der Übungsschule ihr Metier von Grund auf praktisch erlernt. Dies gab ihnen die reelle Möglichkeit, sich ihren Schülern wohlvorbereitet, sowie sehr unmittelbar stoff- und sachbezogen zuwenden zu können. Daß einer von ihnen in der Schulpraxis gescheitert wäre, weil ihm die heutzutage erwartete imaginäre Aureole eines absolvierten "Auch-Hochschul"-Studiums fehlte, ist mir nicht begegnet. Die vorgeschriebenen Unterrichtsfächer wurden in den einzelnen Klassenstufen im wesentlichen von den dortigen Klassenlehrern/innen erteilt. Besondere Fachlehrer sind mir nur für den Religionsunterricht verschiedener Konfessionen, weibliche Handarbeit, teilweise Chorgesang, vor allem aber für den mit der ersten Volksschulklasse einsetzenden Tschechischunterricht erinnerlich. Dieser wurde von Fräulein Elfriede Pommerrening (im Schülerjargon "Pomerantsche") erteilt. Rückblickend meine ich, daß sie - damals vermutlich in den mittleren Jahren stehend - voll zu den von ihrem Beruf bestimmten und gekennzeichneten Lehrerpersönlichkeiten gehörte. Sie war zielstrebig, konsequent und recht streng. Aber so weit wir auch heute der tschechischen Sprache noch einigermaßen mächtig sind, haben wir ihr sehr Vieles zu verdanken. Und dies nicht nur bezüglich der Y-Schreibung nach den "mittleren" Konsonanten b, f, l, m ... z. Auch Arbeitsdisziplin und Darstellung nebst manchen anderen "unwichtigen" Äußerlichkeiten nahm sie wichtig. Ein in vielerlei Hinsicht hervorragender Lehrer war Dr. Richard Klier, der sich nach dem Kriege in Kreisen der sudetendeutschen Heimathistoriker eines anerkannten Namens und großen Respekts erfreute. Über die Lehrer Otto Kern und N. Kreul vermag ich keine kennzeichnenden Details zu berichten. Anders verhält es sich mit Ernst Günthert, der ein guter Klavierspieler war. Als er zur Zeit eines der alljährlichen "Frühlingsfeste mit Mütterehrung" vom Militär zu einer Waffenübung eingezogen war, hatte er sich den betreffenden Samstagnachmittag frei erbeten und war zu dem im Turnsaal stattfindenden Schulfest gekommen. Mir ist noch gut erinnerlich, wie er seinen Gefreitenmantel samt Koppel und Bajonett an den Kleiderhaken neben dem Klavier hängte und den versammelten Eltern ebenso wie deren sich mit mancherlei Darbietungen auf der Bühne produzierenden Kindern, den richtigen Festverlauf musikalisch überhaupt erst ermöglichte.
Diese Art Pädagogik habe ich erst eine Generation später in Deutschland bei unseren Töchtern kennengelernt. Uns ließ man auf weißen Bögen mit Bleistift allerlei Schwung- und Schreibübungen machen, woran sich sehr bald die ersten Heldentaten mit Klabs(?)-Federn und offener Tinte anschlossen. Grundlagen von Ethik, Nächstenliebe, allerlei Lebensnormen müssen uns in einer Art Religions-Vorunterricht anhand biblischer Geschichten, insbesondere von Josef und seinen Brüdern, nahegebracht worden sein. Amtsnachfolger von Herrn Schmidt wurde der bisherige Oberlehrer Heinrich Frank. Dieser war ein ziemlich beleibter Mann mit einer für meine Begriffe unverkennbaren und bewundernswert stereotyp wiederholbaren Unterschrift. An seinen Unterricht sind mir detaillierte Erinnerungen nicht verblieben. Eine gewisse Singularität im Lehrerkollegium ist Fräulein Margarete Lüftner zuzuerkennen. Sie war eine nicht unattraktive junge Frau mit angenehmen Umgangsformen. Sie verstand es, den ihr anvertrauten Kindern gegenüber stets den richtigen Ton zu finden. Damit vermied sie einerseits, durch überbetonte Autorität das persönliche Zutrauen ihrer jungen Gesprächspartner von vornherein zu ersticken, andererseits aber hat sie in anteilnehmendem Eingehen auf an sie vertrauensvoll Herangetragenes dessen Relevanz anerkannt. Ihre Stärke war die Musik, bzw. der Gesang, sowie ihre vermutlich zumindest im Grundsätzlichen fachlich geschulte schöne Stimme. So war sie denn nicht nur Ansprechpartnerin der in ihrer Klasse vereinten Mädchen und Buben, sondern kam auch relativ oft mit Angehörigen anderer Klassen in Kontakt, weil ihr deren Einweisung in die Schätze (Melodien und Texte) des offiziellen Kirchengesangbuchs anvertraut war. Es lag in der Natur der Sache, daß in dieser von Prager deutschen Evangelischen getragenen fünfklassigen Privatschule auch Kinder mit anderskonfessionellem und andersnationalem Hintergrund angemeldet und beschult wurden. Die jeweilige Ursache dafür lag vermutlich in den speziellen Lebensumständen der Familien. Sie beruhten vielleicht auf vordergründig-technischen Überlegungen der Eltern (z.B. nächstgelegene deutsche Schule), reichten gelegentlich aber wohl auch bis in den Bereich konfessioneller und weltanschaulicher Bindungen? Vermutlich entschloß man sich stets dann zur Anmeldung, wenn diese als kleinstes Übel angesehen wurde. Meinen Mitschülern und mir waren solche individuelle Andersartigkeiten zwar bewußt, aber niemals Grund für irgendwelche Ab- oder Aussonderungspraktiken innerhalb der Klasse. Dies galt sowohl für einzelne Kinder, die etwa eine hierzulande seltene Glaubensrichtung "vertraten", war aber ebenso völlig unproblematisch betreffs katholischer wie auch "mosaischer" (ich habe damals eine ganze Zeit benötigt, bis ich begriffen hatte, daß damit unsere jüdischen Klassenangehörigen gemeint waren) Schüler. Alles in allem ist dieser wahrhaftig nicht monokonfessionellen Schülerschaft zu entnehmen, daß wir mit dieser Mischung keine Schwierigkeiten hatten, daß aber auch deren Eltern der Schule sowohl hinsichtlich fachlicher Leistungen, wie auch bezüglich des dort herrschenden Geistes eine positive Einstellung entgegengebracht haben müssen. Dies scheint mir umso bemerkenswerter, als zum feststehenden Ablauf des Unterrichtshalbtags ein gemeinsames Anfangs- und Schlußgebetchen gehörte. Dessen Wortlaut konnte zwar gelegentlich ein wenig wechseln, fest eingespielt für den Tagesanfang aber war das Verslein:
mir helfe Gott, der helfen kann. Wenn Gott mir hilft, wird alles leicht, wenn Gott nicht hilft, wird nichts erreicht, drum ist das beste, was ich kann, im Namen Gottes fang ich an.
Abschließend nun schnell noch der Hinweis auf ein von einem günstigen Zusammentreffen der Umstände unter Prags deutschen Schulen vermutlich nur der unseren zugefallenes glückliches Los. Wir hatten nämlich einen der Schule zwischen St. Michaelskirche und Bürgerhäusern unmittelbar gegenüber gelegenen "Garten". Dieses auch jetzt noch unverbaute Grundstück hatte wahrscheinlich vor etlichen Jahrhunderten den Bewohnern der damaligen Siedlung Opatovice als Friedhof gedient. Uns diente es - besonders sommers - als gern benutzter Auslauf-, Sport- und Turnplatz. Darüberhinaus aber unbeschadet einiger alter Bäume und einer bescheidenen Blumenrabatte, insbesondere als Pausenplatz. Der Schlüssel des Gartentors war beim Schuldiener deponiert und mußte für jede Benutzung eigens abgeholt werden. Dieses Grundstück gehört ebenso wie manche sonstige Drum-Herum-Objekte in die Reihe vielfacher liebenswerter Charakteristika unseres alten Schulhauses. Dazu gehört aber auch der bei jeder Witterung interessante Blick aus den Fenstern der oberen Räume auf das mit Eisfängern bewehrte Schindeldach der Kirche. Nicht minder die Altpapierkiste im Schulhof, aus der philatelistische "Experten" in unbeobachteten Momenten gebrauchte Briefumschläge mit Briefmarken-Raritäten zu ergattern vermochten. Höchst attraktiv waren auch gelegentliche Besichtigungen der Sammlung zahlreicher zoologischer und physikalischer Demonstrationsobjekte, die, längst nicht mehr im Gebrauch, aber dennoch, oder gerade deshalb, mancherlei Wißbegier und die Gefühle von fremde Erdteile erkundenden Entdeckungsreisenden zu erwecken vermochten. - Zusammenfassend ist dankbar zu sagen, daß die uns einstmaligen Frequentanten ins Leben mitgegebenen Wertvorstellungen es wahrhaftig rechtfertigen, wenn wir zeitlebens unserer aktiven Zugehörigkeit zur Deutschen Evangelischen Schule in Prag II dankbar gedenken! So möge denn an dieser Stelle das den täglichen Unterricht beendende Verslein bei uns allen - Schülern wie Lehrern - lebenslang segensreich nachklingen:
Herr, bleib bei uns mit Deinem Wort und gib uns Deinen Segen auf allen unseren Wegen. Amen!
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