Mein Leben und Wirken
von D. Dr. h. c. Erich Wehrenfennig, Kirchenpräsident
Beihefte zu "Glaube und Heimat"
Zeitschrift der "Gemeinschaft evangelischer Sudetendeutscher
e.V."
Heft 2, Melsungen 1956
Mein Leben und Wirken - diese Überschrift ist mir gegeben worden.
Mein Leben und Wirken ist aber verbunden mit dem Leben und Wirken vieler
Mitarbeiter, so dass ich lieber und bescheidener über diesen Bericht
geschrieben hätte: "Mein Leben und meine Mitarbeit mit vielen, die mir zur
Seite standen."
Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, wollte ich meiner
Mitarbeiter Tun darin auch deutlich machen. Ich muß aber stark betonen,
daß wir alle eine einträchtige Arbeitsgemeinschaft bildeten,
besonders in den Jahren 1919-1945.
Seit dem 1. April 1952 lebe ich in Feuchtwangen/Bayern und kann dieses Land als
meine Urheimat betrachten. Mein Ururgroßvater, Gabriel Gottfried
Wehrenfennig, war Gesandtschaftsbeamter der Westfälisch-fränkischen
Gesandtschaft in Regensburg. Mein Urgroßvater Julius Theodor Wehrenfennig,
geboren in Regensburg, studierte in Erlangen Theologie. Auf Veranlassung des
Tobias Kiesling, eines Kaufmanns in Nürnberg, der die Märkte in Linz
besuchte, um den geheimen Protestanten Bibeln und Katechismen zu geben - man
kann ihn wohl den ersten Gustav-Adolf-Mann in Bayern nennen - kam mein
Urgroßvater nach Gosau im Salzkammergut als erser Pfarrer für die
wiedererstehende Toleranzgemeinde unter Kaiser Josef II. - In Gosau war mein
Großvater auch Pfarrer und mein Vater ist ebenfalls dort geboren. Er wurde
Pfarrer in Klein-Bressel, wo ich 1872 geboren bin. Im Jahre 1874 kam mein Vater
nach Gnesau in Kärten. Die Kirche dort hatte ein Zifferblatt, aber keine
Uhr, auch keine Orgel. Ich erinnere mich, daß viel vom Gustav-Adolf-Verein
geredet wurde, denn mein Vater und Pfarrer Tillian von Feld am See waren ihm
eifrig zugetan.
Eines Tages gab es viel Aufregung in unserer Familie; denn drei Gosauer
Presbyter mit ihren für Gosau üblichen Kröpfen waren gekommen,
meinen Vater zu überreden, daß er die Gemeinde Gosau übernehme.
"Weil doch immer bei uns ein Wehrenfennig gewirkt hat."
Die Aussprache dauerte zwei Tage, und es gab reichlich Tränen, aber die
Gnesauer siegten. Mein Vater hatte zwei Kinder auswärts im Studium und das
Einkommen wäre in Gosau noch schmäler gewesen wie in Gnesau, etwa 200
Gulden im Jahr an Geld. Ich lebte in der rauhen Gebirgsgegend des Gurktales bis
zum 11. Lebensjahr und war sehr viel im Wald und Feld. Auch begleitet ich
meinen Vater sehr oft auf seinen Diasporareisen zu Fuß nach Arriach, (dort
hat mein lieber Freund und Präsidentstellvertreter Pfarrer von Leitmeritz,
Dr. Giesecke, als Vikar angefangen; er war bei uns 20 Jahre in der
Prüfungs-Kommission der Kirchenleitung tätig), Widweg, Weiern (zum
Waisenhaus des Pfarrers Schwarz) und nach Bad St. Leonhard. Mein Vater wollte
mich noch ein Jahr zu Hause auf die Mittelschule vorbereiten und gab mir
Unterricht in Latein und Deutsch. Aber an einem schönen Junitag sah ich
durch das Fenster der verschlossenen Amtsstube, wie auf der Pfarrwiese Heu
geerntet wurde. Ich entwich durch das Fenster.
Als ich schuldbewußt wiederkam, war mein Vater sehr böse und
eröffnete nur: ,,Im September kommst Du nach Klägenfurt.''
Und so kam es auch. Mein Vater begleitete mich wohl hin, ich mußte aber
dann am nächsten Tag nach der Prüfung allein zum Direktor geben und
fragen, ob ich durchgekommen sei. Der gestrenge Direktor sagte: ,,In
Mathematik war es nichts, aber in Deutsch warst Du gut, Du bist
angenommen.''
Nun kam ich zu einem schlechtbesoldeten Schreiber in die Kost. Das Kostgeld
betrug 10 Gulden im Monat. Das Abendessen bestand oft in einer dünnen
Suppe ohne Brot. Ich durfte aber jeden Sonnabend für die Mutter des
Kostherrn ein Brt weither vom Lande holen und bekam als Botenlohn den Scherz
(Anschnitt). Später kam ich zu einer Tante, wo mir nichts fehlte. Ich
erinnere mich aber, daß keine frischen Semmeln gekauft wurden, sondern
altgebackene, die waren billiger. Meine Wohnung war am Lendkanal, der zum
Wörther-See führt. Da bin ich einmal auf einem Schlittschuh, den mir
ein Mitschüler borgte, eine Stunde weit bis zum Wörther-See
geschlittert und noch ein Stück weiter hinaus in den See, der zum Teil
zugefroren war. Das hätte bös ausgehen können.
Im Jahre 1883 erhielt mein Vater einen Ruf nach Eferding in
Oberösterreich. Die Reise dahin machten meine Schwester und ich allein
durch das Geseuse bis Linz/Donau. Da waren wir ratlos, denn wir hatten nur noch
3 Kreuzer! Eine Bäuerin, die unsere Not sah, führte uns zum
Postwagen. In schwerer Sorge stiegen wir ein, ob wir nicht hinausgeworfen
würden, weil wir die Fahrt nicht bezahlen konnten. Nach einer wohl
dreistündigen Fahrt empfing uns der Vater, und kurze Zeit darauf standen
wir im Schul- und Pfarrhof und sahen uns in ein fremdes Klima versetzt:
Marillenbäume mit großen, gelben Früchten und an den Wänden
des Bethauses blaue und weiße Trauben! In Gnesau kannten wir nur die
Früchte von Zirbelkiefern und Holzbirnen!
In diesem Bethaus haben unter einem uns verwandten Pfarrer Kotschy die
vertriebenen Salzburger Evangelischen 1837 beim Durchzug nach Bayern einen
Bittgottesdienst gehalten. Es standen erst die Mauern des Bethauses, das Dach
fehlte noch. In diesem Bethaus wurde ich später in der Ferienzeit, allein
vor der Gemeinde, konfirmiert. Der Vater gab mir den Spruch mit; "Leide mit als
ein guter Streiter Jesu Christi", und ich hatte zu antworten: "Ja, ich
weiß, nicht der Anfang, nur das Ende krönt des Christen
Glaubensstreit, drum getreuer Gott, vollende meinen Lauf in dieser Zeit, hab
ich Dich einmal erkannt, so verleih mir auch Bestand, daß ich, bis ich
einst erkalte, Glaube, Lieb' und Hoffnung halte." Die Vorbereitungen für
den Konfirmandenunterricht haben mich tief beeindruckt. Ich war, damals in Linz
ein Schüler, der seine Pflicht tat. Aber zu dieser Wende kam es erst in
meinem 12. Lebensjahr, Da war ich bei einem Tramwaykutscher in Kost. Meine
Mutter kam nach Urfahr bei Linz, packte schweigend meine Sachen zusammen, die
ein Dienstmann übernehmen mußte. Wir gingen über die
Donaubrücke nach Linz in die Bethlehemstraße, an einem Kloster
vorbei. Hier wurde mir eröffnet, daß ich zu einem Schneider in die
Lehre komme, weil ich in der Schule nicht mitkäme. Da lehnte ich mich
weinend an die Mauer des Klosters und sagte: "Liebe Mutter, ich kann doch nicht
Schneider werden, die Kinder haben mich immer den 'dünnen Schneider'
geschimpft. Ich will doch studieren. Aber gebt mich in die 1. Klasse
zurück, ich komme in der 2. nicht mit, es ist doch hier in Linz ganz
anders wie in Klagenfurt." Daraufhin brachte mich die Mutter zu einer Tante,
der Witwe des verstorbenen Pfarrers und Seniors Adolf Wehrenfennig in Gosau.
Sie hatte im Gymnasium drei Söhne und nahm mich willig auf und wurde meine
Retterin. Es hat in der Schule nie mehr eine Klage über mich gegeben. Im
Gymnasium hatten wir einen Prämonstratensermönch als Professor
für Geschichte. Er war gegen uns drei Pfarrersöhne - Koch August,
Gottfried Wehrenfennig (mein lieber Vetter wurde Pfarrer in Turn und Obmann des
Bundes der Deutschen) und Erich Wehrenfennig - gut. Er ließ immer
schriftliche Schularbeiten machen. Für den Aufsatz über den
Investiturstreit und seine Hauptstationen bekam ich die Note: "fast
vorzüglich", weil nicht zu Ende, sonst wäre die Aufgabe
"vorzüglich" zu nennen. Ein anderer evangelischer Mitschüler schrieb
damals auf das Blatt Papier kein Wort und sagte dann beim Abgeben trotzig:
"über den Papst kann ich nicht schreiben." Der Professor strafte ihn
nicht, er war großzügig. Der Schüler wurde später Pfarrer
in Schutzberg in Bosnien. Der Professor machte die Schlachten und weltlichen
Machtkämpfe der Geschichte für uns nicht wichtig. Aber die geistigen
Strömungen der Weltgeschichte führte er uns vor die Seele. Die
Jesuiten zeigte er uns in verklärtem Licht. Der strenge
Mathematikprofessor prüfte uns gerne, während er Neues vortrug, um
uns zur Mitarbeit zu zwingen. Einmal sagte er mir, indem er mich in die Bank
niederdrückte: "In den mathematischen Himmel kommen Sie nicht."
Nach der Matura kam ich an die Fakultät nach Wien, Der Geschichtsprofessor
Lösche wurde von uns erst nach Wochen verstanden, aber dann wurden wir
aufmerksam, denn sein Vortrag war geistvoll. Sein Stil erinnerte an Haases
Kompendium. Die theologische Fakultät war außerhalb der
Universität untergebracht. Wir waren etwa 15-20 Studenten. In manchem
Kolleg nur 3-6 Hörer. Meine Sehnsucht war, nach Erlangen zu kommen, wo
meine Vettern auch studiert hatten. In Erlangen studierte ich tatsächlich
in den Jahren 1894 und 1895 und mußte schon im 3. Semester zu
Füßen des Dogmatikers Frank sitzen. Ich hörte den
Neu-Testamentler Zahn, den praktischen Theologen Caspari und den frommen
Philosophen Class. Der Unterschied gegenüber der Wiener Fakultät war
groß. So gab es bei Frank fast 300 Zuhörer, er sprach ohne Kollegheft
und sehr lebendig, trotz seines Alters. Als er im nächsten Semester starb,
trat für ihn Professor Seeberg (ein Livländer) ein. Auch sein Vortrag
war überaus lebendig und mitreißend. Weil meine Vettern der
christlichen Schwarzburg-Verbindung, Uttenruthia, beigetreten waren, trat ich
auch ein. Das Verbindungsleben war ganz anders wie in Wien. Dort war es
politisch ausgerichtet. In Erlangen war kein Gedanke an Politik. Austausch
über die Probleme des Studiums, Freundschaft und Romantik erfüllten
uns da ganz. Das letzte Semester machte ich in Wien und bereitete mich auf die
Fakultätsprüfung vor; Als ich dem Geschichtsprofessor klagte,
daß ich mit den Jahreszahlen Schwierigkeiten hatte, sagte er:
"Trösten Sie sich mit Momsen, der hat sie auch nicht gewußt." Bei der
Prüfung kamen vier vor mir dran über die ungarische
Kirchengeschichte. Denn es gab damals ein Jubiläum, an das der Professor
anknüpfte. Ich hätte nichts gewußt und die vier vor mir hatten
harte Not, zu antworten. Als ich nun dran kam, fragte er, woraus die
Wiedertäuferbewegung zu erklären sei. Ich antwortete mit einem Satz,
den ich im Kollegheft in der Nacht vor der Prüfung gelesen hatte und
erhielt die Note - "sehr gut".
Die Amtsprüfung legte ich in Wallern bei Herrn Superintendenten Koch ab.
Es wirkten dabei mit Senior Schwarz aus Gallneukirchen und der gelehrte Pfarrer
Dr. Fußgänger, der jeden neutestamentlichen Spruch in griechischer
Sprache verlangte.
Nun sollte ich in ein Amt kommen. Mein Vater wollte mich in Eferding als Hilfe
haben. Ich sagte: "Lieber Vater, für zwei Kräfte ist hier zu wenig
Arbeit. Es sind nur 1000 Seelen und keine Filialen dabei." In Österreich
waren keine Stellen frei. Aber in Böhmen suchte man in Trautenau" einen
Vikar, insbesondere als Religionslehrer für die Kinder einiger Kaufleute
und Beamten. Ich bewarb mich neben 12 Kandidaten aus Deutschland um diese
Stelle und wurde angenommen. Sicher nicht, weil ich etwa am besten gepredigt
hätte, sondern weil ich Österreicher war, und die reichsdeutschen
Presbyter hatten nicht den Mut einen Ausländer zu wählen, denen die
Statthalterei immer Schwierigkeiten machte. Als ich zum Dienstantritt in
Trautenau ankam, empfing mich der Kurator, und auf meine Frage, wie viele
Seelen sind wohl hier zu zählen, antwortete er: "Etwa 15 Namen könnte
ich Ihnen nennen, die anderen müssen Sie sich halt suchen." Das war also
der Anfang meines Hirtendienstes. Und so suchte ich die Seelen zusammen. In der
Stadt, im Aupatal und in den Dörfern ringsum bis hinauf zur Schneekoppe.
In einer Gustav-Adolf-Predigt zu Köpenick predigte Bischof Dibelius
über Johannes 11: "Jesus sollte sterben für das Volk und nicht
für das Volk allein, sondern, daß er auch die Kinder Gottes, die
verstreut waren, zusammenbrächte!" Als Beispiel zu diesem Texte
erzählte er den Aufbau meiner Gemeinde in Trautenau. Nach dem ersten
Gottesdienst, der in einer Schulturnhalle zu halten war, die dann später
alle 14 Tage am Sonnabend erbeten werden mußte - ich machte diesen
Bittgang immer im Salonrock mit Zylinder -, kam ein alter Weber auf mich zu und
bat mich am Nachmittag nach Oberaltstadt zu kommen, wo sie Sonntag immer in
seiner Stube Andacht zu halten pflegten. Ich fand dort etwa 12 Andächtige
versammelt und auf dem Tisch lag die Bibel. Die Zuhörer stammten aus der
Toleranzgemeinde Hermannseifen. Der Hausvater Pohl, ein Lumpensammler für
die Papierfabriken, träumte einmal, wo unsere Kirche stehen würde,
und sein Traum wurde Wirklichkeit an dem erträumten Ort im Stadtpark,
gegenüber dem Kapellenberg mit den Preußengräbern von 1866. Beim
Aufbau der sehr kleinen Diasporagemeinde halfen mir fromme Weber aus
Hermannseifen stammend, Kaufleute und Frauen aus Schlesien. Als ich die erste
Himmelfahrtpredigt hielt, sagte eine Schlesierin, die den ersten
Abendmahlstisch gedeckt hatte: "Herr Vikar, warum haben Sie heute nicht das
Lied singen lassen 'Auf Christi Himmelfahrt allein ich'meine Nachfahrt
gründe'?" O ich unerfahrener Vikar habe viel lernen müssen von im
kirchlichen Leben gereiften Gläubigen. Im Herbst 1896 war ich in Trautenau
angetreten und habe in etwa drei Jahren 300 Seelen gefunden. Es war die Zeit
der ersten Liebe zum Evangelium. Alle waren hungrig nach dem Wort und dankbar
und treu. Um das Jahr 1900 rafften wir uns dazu auf, eine eigene Pfarrgemeinde
zu begründen. Bisher waren wir eine Filiale von Gablonz. Der
Oberkirchenrat von Wien präsentierte das Gesuch der Statthalterei in Prag,
und diese lehnte es ab. Das war eine schwere Enttäuschung. Aber ich fuhr
nach Prag zum Statthalter, dem Grafen Coudenhove, und fragte nach den
Gründen der Ablehnung. Er sagte: "Ich weiß von nichts, habe den Akt
nicht in der Hand gehabt. Sind Sie Österreicher?" "Ja", sagte ich. "Dann
geben Sie mir Ihre Beschwerde schriftlich. Die Audienz war zu Ende. Ich gab dem
Türhüter einen Gulden und bat um ein Blatt Papier und schrieb ein
Paar Sätze darauf. Das Blatt wurde dem Statthalter hineingetragen. Sechs
Tage später erhielt ich von Wien die Genehmigung der Pfarrgemeinde. Nun
konnte ich meine liebe Braut Vilma geb. Hoffmann heimführen - eine
Lehrerin, die mir in der Gemeinde treu geholfen hat. Es war wie ein Wunder,
Pfarre und Pfarrfrau zu haben. Und dieses Wunder gab mir den Mut, nun auch an
den Kirchbau zu denken.
Ich suchte die Hilfe der Gustav-Adolf-Vereine und fand sie bei
Oberkonsistorialrat Dr. Dibelius in Dresden und beim Präsidenten Pank.
Doch mein erstes Gustav-Adolf-Fest machte ich in Frankenberg in Sachsen mit.
Hofprediger Kessler hielt die Predigt, die auf mich einen tiefen Eindruck
machte. Er sprach von den Salzburger Emigranten. Da hörte ich zum ersten
Mal im Gottesdienst die Posaunenbegleitung der Choräle. Ich war innerlich
ganz aufgerührt und gedachte unserer Armut in der Diaspora! Als mit dem
Mittagessen das Fest schließen sollte, wurde ich sehr traurig, ich war
nicht zu Wort gekommen. Und nun sollte ich heimkehren. Da wurde von Hofprediger
Kessler von der Diaspora gesprochen. Ich bat meine Amtsbrüder aus der
Diaspora, daß sie mich antworten lassen mögen und begann zu sprechen.
Bei der Schilderung unserer Armut kam ich bald ins Stocken und hörte auf.
Ich setzte mich, aber Kessler erhob sich und sagte: ."Als ich Erzieher der
kaiserlichen Prinzen war und im Religionsunterricht das Lied vorkam 'Jerusalem,
droben vom Golde erbaut ...', da sagte spontan Prinz Eitel Fritz: 'Wenn ich
einmal in den Himmel komm, dann nehme ich alles Gold, das ich da finde und
werfe es auf die Armen von Berlin herab'." Kessler sprachs, nahm einen leeren
Teller und ging mit den Worten - an den Stühlen der Tischgäste vobei
-: "Und wir wollen nun alles Gold, das wir haben, auf die Armen von Trautenau
werfen." ... Dann brachte er mir den Teller, dessen Boden mit lauter
Goldstücken gefüllt war. Das war mein. erstes Gustav-Adolf-Erlebnis.
Auf einem anderen Fest sprach Präsident Pank zu mir: "Junger.Mann, machen
Sie was Sie wollen, wir stehen hinter Ihnen."
Als ich Gebeimrat Fricke besuchte und um 300 RM als Zuschuß zum
Pfarrgehalt bat, damit wir zur Pfarrwahl schreiten können, war er
zunächst ablehnend. Dann fragte er plötzlich; "Also, Sie sind aus
Trautenau? Da war ich doch Feldgeistlicher!" Und nun erzählte er von den
dortigen Gefechten. Seine liebe Gattin mahnte zweimal an das Mittagessen. Er
sagte: "Ich komme schon" ... und sprach weiter zu mir. Aber endlich stand ich
auf und sagte: "Herr Geheimrat, ich kann nicht mehr bleiben, ich bringe Sie um
Ihre Mahlzeit." Da verabschiedete er mich mit den Worten: "Die 300 RM soll
Trautenau haben auf 3 Jahre."
Ein wunderbares Erlebnis war es auch, als Oberhofprediger Dibelius in
Löbau über die Hauptliebesgabe abstimmen ließ und eine Stimme
nicht für Trautenau stimmte. Wie böse er da werden konnte, weil die
Einmütigkeit der Abstimmung gestört war. Wir erhielten damals
7.000 RM. Durch Dibelius wurde Trautenau auch für die Hauptliebesgabe
in Berlin angesetzt. Wir waren damals noch Filiale und es war, gegen den
Brauch.
Der Vorsitzende des Wiener Hauptvereins fuhr nach Berlin, um zu protestieren,
aber wir blieben im Dreiervorschlag. Freilich bekamen wir nur den Trostpreis,
aber auch der war groß genug. Ich habe in der Gustav-Adolf-Gemeinschaft
unendlich viel mich bewegt und erlebt. Durch ihre Hilfe konnte ich den Bau
dreier Kirchen möglich machen. In Trautenau, in Neudorf bei Gablonz, und
in Kronsdorf in Schlesien, wo schon mein Vater eine Filiale betreute.
Der Zentralvorstand von Leipzig hat mich gewürdigt, ein Mitglied dieser
Körperschaft zu werden und ich durfte ihr 9 Jahre angehören. Ich habe
alle Präsidenten von Fricke bis auf Dr. Heinzelmann persönlich
erlebt. Und den jetzigen Präsidenten D. Lau lernte ich von Stollberg aus
kennen und schätzen, als er die Landeskirche leitete. Wie konnte sich im
Verkehr mit diesen Persönlichkeiten und in diesen hochbedeutsamen
Sitzungen, an denen ich teilnehmen durfte, mein Blick weiten. Wie lernte ich
die evangelischen Kirchen in Deutschland in ihren Sorgen und Problemen
verstehen. Wieviel Kräfte, Anregungen und Liebe strömte aus der
Gustav-Adolf-Gemeinschaft in meine Kirche ein. Wir waren Aussaat und Ernte des
Gustav-Adolf-Werkes.
Unvergeßlich sind mir die Herren Presbyter von Trautenau: Driessen,
Zimmermann, Engelmann, E. Seifert, Baumeister Lobner und Ernst v. Stein. Alle
treu wie Gold.
Nach 12 Jahren meines Dienstes in Trautenau und ausgebreiteter Mitversorgung
der öfters verwaisten Gemeinden in Braunau, Mittellangenau, Hohenelbe,
Hermannseifen, Arnau und Spindelmühle hielt ich in Wiener-Neustadt eine
Probepredigt über das Gleichnis von der königlichen Hochzeit. Es war
dort ein recht liberal denkender Vikar im Dienst. Meine Predigt fiel auf, denn
sie war biblisch und gläubig. Die Witwe des verstorbenen Pfarrers sagte
mir, leider wird unser Vikar nicht gewählt, sondern die Wahl wird auf Sie
fallen. Aber in einer Presbytersitzung sagte der Oberlehrer der evangelischen
Schule: "Wollt Ihr noch eine zweite Witwe erhalten?" Er hielt mich nicht
für gesund genug und hat meinen Großvater gekannt, der früh
gestorben war. Ich wurde nicht gewählt. Der Pfarrer, der an meiner statt
gewählt wurde, ward ein Jahr darauf tot auf dem Fußboden des
Amtszimmers gefunden. Es war ein Ende in Verzweiflung. Ich bewarb mich um
Thening, ich wollte in meine Heimat und einer stillen Bauerngemeinde dienen.
Mir fehlte eine Stimme. Die Stundisten dieser Gemeinde wählten mich nicht.
Sie sagten: "Der bringt uns vielleicht nordböhmischen Wind." Der an meiner
statt gewählte württembergische Kandidat wurde aber vom
Oberkirchenrat nicht bestätigt, weil ihm die Amtsprüfung fehlte. Nun
wurde ich vom Curator gerufen. "Mir hätte ja nur eine Stimme gefehlt und
nun würde ich mit allen Stimmen gewählt." Ich sagte: "Nein." Man hat
meine Sehnsucht nach der Heimat und nach einer frommen Bauerngemeinde nicht
verstanden. Und so blieb ich in Böhmen. Mein Superintendent sagte mir bei
einer Senioratsversammlung: "Machen Sie sich nichts daraus, wir können Sie
hier auch gebrauchen." Und da wurde Gablonz ausgeschrieben. ,,Des Menschen
Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein gibt, daß er fortgehe
Die vielgenannte Gemeinde Gablonz! Ich war mit meiner Bewerbung eigentlich zu
spät gekommen. Die drei Mitbewerber hatten jeder schon seinen Anhang. Ich
erhielt aber die letzte Predigt an einem Mittwoch, abends, zugeteilt. Der Text
war allen gleich vorgeschrieben und zwar das Wort: "Ich bin der Weg, die
Wahrheit -und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich." Damals litt
ich unter einem chronischen Rachenkatarrh, hielt aber bei der Predigt doch
durch. In der Sakristei sagte ich dem Amtsvorgänger Pfarrer Frenkel: "Ich
weiß nicht, ich habe mit der Gemeinde nicht Fühlung bekommen!" "Nun,
mehr Fühlung kann man doch gar nicht haben", war seine Antwort. Ich wurde
gewählt. Nun hatte ich statt eines Diaspora-Häufleins eine Gemeinde
von 4000 Seelen zu versorgen. Dazu bat mich der Vikar um seinen Abschied, weil
ich ihm die Konfirmanden nicht überlassen wollte. Und ich brauchte doch
diese Verbindung mit den Eltern der Konfirmanden, um mich in die Gemeinde
einzuleben. Ich war bald bedrängt durch die Fülle von Aufgaben, die
mit dem Jahr 1909 auf mich einstürmten. Ich hatte in Gablonz nicht die
anspruchslosen, worthungrigen, unverwöhnten Hörer unter meiner
Kanzel, wie in der Gemeinde Trautenau, sondern hatte nun vor mir eine Gemeinde,
die schon viele tüchtige Prediger erlebt hatte, die alle oft wechselten
und in höhere kirchliche Stellen aufrückten. Ich nenne nur die Namen
Petri, Rolle, Griesshammer, Molin, Frenkel. Die Kreise aus der
Übertrittsbewegung hatten mich nicht gewählt und standen mir
abwartend gegenüber. Schon im Jahre 1911 fiel mir das Amt eines Seniors
zu. Und dieses Amt rief mich viel in die etwa 14 Gemeinden des Kirchkreises.
Der viele Religionsunterricht in Stadt und Land war eine starke Belastung. Dazu
gab es 4 Filialen. Und wie sollte ich Zeit finden, die vielen evangelischen
Familien zu besuchen? Es standen mir aber bald tüchtige Vikare zur Seite,
die mein Arbeitstempo teilen mußten. Die Gemeinde Gablonz galt als
vorbildlich. Ihr Presbyterium war einmütig und unternehmungsfreudig. - Ich
muß der Herren Haasis, Klaar, Thunig, Dettloff, Kislat, Umlauft und
Jenkner gedenken und des lieben Kurators Dahm. Sie waren alle meine Freunde. -
Die Kirche wurde wiederholt verschönt und ausgestattet. In der Schule
wurde aufgebaut. Unser Frauenverein brachte sich in der Gemeinde und der
Öffentlichkeit stark zur Geltung. Was in dieser Gemeinde alles sich
ereignete, hat der verdienstvolle langjährige Küster Josef Fischer in
Aufzeichnungen und gesammelten Drucksachen der Nachwelt übergeben wollen.
Der wertvolle Band blieb wie alles andere mit dem Pfarrarchiv in Gablonz und
kam in fremde Hände. - - -
Im Jahre 1919 entstand die tschechoslowakische Republik. Da waren wir auf
einmal von Wien abgetrennt und ratlos.
Ich hatte in Trautenau von der Picke auf gedient, aus kleinsten Anfängen
eine Pfarrgemeinde gegründet, den Bau der Kirche durchgeführt. Und
ich mußte zuletzt, weil der Baumeister auf Urlaub ging, die Endarbeiten
beaufsichtigen, zumal die Planierung um die Kirche herum durchführen,
wobei ein am Vormittag zum Erdeführen zugelassener Arbeiter sich beide
Beine brach, wofür ich vor das Gericht kam. Ich wurde freigesprochen, und
dann mußte ich doch noch die Kanzel aufstellen lassen und Anordnung geben,
wie die gotischen Rippen am Plafond der Kirche verlaufen sollten.
Aber nun brachte das Jahr 1919 eine andere Aufbauarbeit. Es mußte eine
Kirche für 130.000 Seelen in einem eben gegründeten Staat gebaut
werden - man kann aber Kirche nicht bauen, sie wird gegeben. Das lehrt uns
Pfingsten. Alles menschliche, allzumenschliche Kirchentum, das ohne Gottes
Geist sich breit machen will, ist damit gerichtet. - Ich denke dabei an die
tschechoslowakische Nationalkirche und an die Deutschen Christen im Reich. Wie
wurde nun unsere Kirche gebaut? Die Ascher Superintendenz, die
westböhmische Superintendenz und das Mährische Seniorat waren von
Wien abgetrennt und lagen als Wrack, als führerloses Schiff, auf wogender
See. Wir griffen zur Selbsthilfe. Ich berief als Senior eine Sitzung der
Senioren nach Reichenberg ein. Es mußte gehandelt werden, und so
überlegten wir uns vorbereitende Schritte zu einem gründenden
Kirchentag. Er wurde dann am 25. 10. 1919 nach Turn einberufen. Der Vorsitzende
eröffnete die Tagung mit den Worten: "Der Not gehorchend, nicht dem
eigenen Trieb, sind wir zusammengekommen um unser Haus zu bauen." Senior
Hickmann aus Dux und Dr. von Stein aus Trautenau hatten Grundzüge für
eine Verfassung als einen ersten Versuch vorbereitet. Als ein Senior sagte, was
nützt es uns, wenn wir hier Beschlüsse fassen, wir wissen nicht, was
Prag dazu sagt, da stand ich auf und sagte: "Wir müssen doch die
Grundlagen für unsere Kirche legen und wenn uns später Einwände
gemacht werden, so können wir verhandeln und haben doch nach unseren
Wünschen einen Anfang gemacht." Nun wurde also weiter getagt und am
Schlüsse ein Dreierausschuß gewählt als die vorläufige
Kirchenleitung - Wehrenfennig, Marschner als weltliches Mitglied und
Superintendent Gummi. Beim Abendessen ließ ich die Brüder fragen, wie
das Triumvirat gemeint sei, wer an der Spitze stehen solle? Die Antwort war,
die Gewählten gelten in der Reihe, wie sie gewählt wurden. Wir
setzten uns zusammen, und ich sagte, dann soll wohl bei mir der Einlauf der
Akten sein, und ich gebe sie dann weiter, und Herr Superintendent macht die
Schlußbearbeitung und läßt sie ausgehen. Superintendent Gummi
antwortete: "Wo der Einlauf ist da ist auch der Auslauf."
Ich mußte von Turn in meine Heimat fahren zu meiner totkranken Mutter. Als
ich nach Gablonz zurückkehrte, lag der Schreibtisch meines Pfarramtes voll
Post. Die Pfarrer, die Witwen, die Gemeinden fragten um Rat, denn es fehlte an
vielen Orten am Lebensunterhalt. Ich war also Vorsitzender der vorläufigen
Kirchenleitung und hatte keinen Kreuzer Geld für die bestehenden
Nöte. Ich schrieb nach Amerika an Professor Hübner in der
Nebraska-Synode, der aus Gablonz stammte, und dem ich einmal für die
Ausreise über das große Wasser das Geld verschafft hatte. Umgehend
erhielt ich 18.000 Kc. Nun erwarb ich eine Schreibmaschine, einen Schrank
und stellte einen Sekretär an, Robert Vorbach, der viel schaffen
mußte. Er starb im Jahre 1946 bei der Flucht.
Als ich den ersten Erlaß ausgehen ließ, auf dünnem Papier, in
Oktav-Format, um alle Pfarrer rasch zu erreichen, wurde das Blatt im Westen
beanstandet mit den Worten: "Das sind die Erlässe unserer neuen
Kirchenregierung." Wir riefen dann zu freiwilligen Opfern auf, und die
Kirchenleitung konnte sich entfalten. - 1920 wurde der bekennende Kirchentag
einberufen. Da ging es vor allem um die Präambel. Pfarrer und Senior
Gustav Fischer von Eger hatte sie formuliert. Sie lautete: "Die Deutsche
evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien steht auf dem
alleinigen Grunde der heiligen Schrift und sie hält sich in ihrem Leben an
die Grundsätze der Reformation und in ihrer Lehre an das evang.-luth.
Bekenntnis." Es war ein wunderbares Erlebnis, als nach heißem Kampf die
Annahme erfolgte, und auf den Zuruf zum Vorsitz hin: "Melden Sie diesen Kampf
wegen des Bekenntnisses nach Amerika" - von mir geantwortet wurde: "Ich werde
es tun und ich bekenne mich zu dieser meiner Kirche in ihrem Sosein vor dem In-
und Auslande." Auf dieses Wort hin strömten die Versammelten bis auf zwei
zum Vorsitz hin und reichten mir die Hand. Etwa zehn Minuten später war
die Wahl des Kirchenpräsidenten auf Lebenszeit beschlossen. Und der
älteste Senior, Dr. Martin Haase, nahm die Angelobung vor. In großer
Einmütigkeit war so der Grund der Kirche gelegt und die Einmütigkeit
blieb uns gottlob erhalten.
Die Kirche ist uns gegeben worden. - Wenn aus dem losen Verband von
Gemeinden ganz verschiedener Herkunft und verschiedenen Kirchenbrauches eine
wirkliche Kirche geworden war und immer mehr wurde, so verdankte sie das drei
Umständen, wie von einem Beobachter unserer Kirche gesagt wurde: "... dem
durch die Verfassung festgelegten lutherischen Bekenntnisstand der Kirche, der
Persönlichkeit des erwählten Präsidenten und dem immer
lebendiger werdenden Verlangen der Gemeinden nach Verkündigung des
Evangeliums".
Senior Fischer und ich wurden beauftragt, zu Professor Morehead, dem Vertreter
des luth. Nat. Council, zu fahren. Wir wurden sehr freundlich empfangen, trotz
meines aufrichtigen Berichtes über die Debatte im Kirchentag. Morehead gab
uns einen Scheck auf 300.000 Kc für die Nöte unserer Kirche. Die
österreichische Kirche, die größer ist, erhielt 500.000 K.
Sehr viel Fahrten nach Prag wurden in Zukunft nötig. Beim
Staatspräsidenten Masaryk wurden wir freundlich aufgenommen. Er sagte:
"Ich bin ein bewußtes Glied der evangelischen Gemeinde und werde Ihnen
gerne helfen." Es gab sehr viele Vorsprachen bei Behörden und viele
Verhandlungen mit der tschechisch-brüderischen Kirche. Durch ihren
Beistand erhielten wir Staatsunterstützung auf Grund der Grundbestimmungen
für die Deutsche evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und
Schlesien, die mit der Regierung in Beachtung des Protestantenpatentes vom
Jahre 1861 vereinbart worden waren. Im Jahre 1924 war die Verfassung endlich
genehmigt worden. Mit ihrer Genehmigung stand auf einmal innerhalb der C.S.R.
der erste Deutsche Selbstverwaltungskörper da, ungehemmt in der
Entwicklung. In ihm konnte deutsches Leben und deutsche Gesinnung gewahrt
werden, indem evangelisches Leben und evangelische Gesinnung treu gepflegt
wurden.
War schon in der evangel. Bewegung vielen Deutschen aufgefallen, daß sich
das deutsche Luthertum dem nach einer befriedigenden Kirchengemeinschaft
suchenden Deutschen an vielen Orten durch die Gründung von neuen
Predigtstationen, durch Verkündigung des Wortes in Andachtstunden und an
Gräbern, durch Vortragsabende und kirchliche Feste hin und her im Lande
anbot, - so war mit der Begründung der neuen Kirche die Aufmerksamkeit der
Außenstehenden in verstärktem Maße auf die Evangelischen
gelenkt. Und weil bei diesen Festen immer Gäste aus dem benachbarten
Sachsen und Schlesien und von weither dabei waren, die auch das Wort boten, so
hat sich die im Herzen gefühlte religiöse Gemeinschaft
verstärken können. Die Kreise des evangelischen Gustav-Adolf-Werkes
und des Evangel. Bundes und des Luthervereins haben daran ein großes
Verdienst. Herzlich, gedankt sei Ober-Regierungs-Inspektor Alfred Meusel, der
die mährischen Gemeinden viel besuchte.
Ich war wohl bei jedem bedeutenden Fest des Gustav-Adolf-Werkes geladen und
meiner Kirche wurde in jeder Not geholfen. Einmal aber konnten wir selbst den
deutschen Brüdern Hilfe bringen. Ich war von einem Gemeindetag in
Plauen/Vogtland eingeladen, einen Vortrag zu halten über das Thema: "Wie
kann die Diasporagemeinde der Heimatgemeinde Führerin und Vorbild sein?"
Nach meinem Vortrag brachte ich als Gruß von unserem Hauptverein, der in
Eger unter Kirchenrat Ziegenspeck getagt hatte, 1.000 Kc. Mir
gegenüber saß ein Oberkirchenrat, der darüber erschreckt
aufsprang. Ja, das war auch damals für Plauen sehr viel Geld. Nun konnte
die Tagung weiter ihre Fortsetzung finden.
Als die Kirchen der Welt wieder zueinander Fühlung suchten und fanden, gab
es viele Weltkirchenkonferenzen. An allen nahmen die anderssprachlichen
christlichen Kirchen der C.S.R. teil. Es war selbstverständlich, daß
wir. uns auch beteiligten. Die erste Reise zur Weltkonferenz für Glauben
und Kirchenordnung ging nach Genf, im Jahre 1920. Durch gütige Vermittlung
des Dr. A. W. Schreiber im Kirchenausschuß in Berlin war ich auf Erholung
in Vadstena a. Wetternsee (Schweden) beim pensionierten Prof. Lindroth, dem
Erzieher der königlichen Prinzen, - dann auch in Upsala beim Erzbischof
Söderblom zum Lunch geladen. Damals richtete der Erzbischof an mich die
Frage; "Sind Sie auf Lebenszeit gewählt?" Auf meine.bejahende Antwort
sagte er: Dann sind Sie Bischof, ich lade Sie ein, mit mir nach Stockholm zu
fahren, um mir bei der Einführung des Pastors Primarius zu assistieren.
Denn ich habe nur einen Bischof dort zur Verfügung." Ich sah in Stockholm
die ganze Pracht einer schwedischen Ordination in funkelnden, vielfarbigen,
vergoldeten Meßgewändern. Ich selbst trug auch ein Meßgewand.
Von Stockholm wurde ich telegraphisch nach Genf geladen. An dieser
Weltkonferenz nahmen sieben Deutsche teil. Es war der erste Vorstoß der
Deutschen nach dem ersten Weltkrieg, an solchen christlichen Tagungen
teilzunehmen. Die Aufnahme war keine unfreundliche.
Im Jahre 1921 wurde ich nach Wien geladen zu meiner und des Senior Schwarz von
Gallneukirchen Ehren-Promotion. Es war für meine Kirche und für mich
eine Ehrung, die viel bedeutete bei der Notwendigkeit zu repräsentieren.
Im August 1921 war in Prag eine Weltbruderschaftskonferenz. Dabei hatte ich zu
sprechen, und meine Worte wurden beifällig aufgenommen. Ich kam dabei auch
mit Bischof Farsky der Tschechoslowakischen Kirche ins Gespräch und fragte
ihn nach der Grundeinstellung seiner Kirche. Er sagte: "Wir predigen das
Evangelium in Übereinstimmung mit der Wissenschaft. Wir wollen eine
moderne Kirche sein." Ich sprach da auch mit Pfarrer Fedor Ruppeldt aus der
Slowakei wegen der Haltung der lutherischen, slowakischen Bischöfe in
Bezug auf die deutschen Pfarrer in der Slowakei. Er glaubte sagen zu
müssen, die deutschen Pfarrer hätten madjarische Tendenzen und seien
nicht deutsch-national. Sie wollen in den Schulen das Madjarische pflegen und
wir zwingen sie, das Deutsche zu pflegen.
Im Dezember wurde ich dann nach Preßburg gerufen, einen Vortrag über
die Weltlage des Protestantismus zu halten.
Am 24. 3. 1924 desselben Jahres nahm ich am 3. Lutherischen Kirchentag in
Bielefeld-Bethel teil. Dort erlebte ich im Garten der Betheler Anstalt zum
ersten Mal die machtvolle Wirkung von 500 Posaunen. Es wurden 70 Strophen
gesungen, von einzelnen Chören, bald von 100, bald von 200 Posaunen
begleitet. Aber am Schluß vereinigte sich alles, was Odem. hatte, und
begleitet von 500 Posaunen stieg das Lied der Anbetung zum Himmel, "Gloria sei
dir gesungen, mit Menschen- und mit Engelszungen". Als das machtvolle Lied
verklungen war, sagte ein Theologieprofessor: "Das war ein Vorgeschmack der
ewigen Seligkeit, das war in der ewigen Stadt." Und so empfand ich es auch.
Während des Ansturmes der Posaunentöne und mitten im mächtigen
Brausen des von allen gesungenen Verses sah ich ganz nahe der Kanzel am Stamm
eines gewaltigen Baumes ein Rotkehlchen, unbekümmert um den ungeheuren
Lärm zu seinem Neste hüpfen, kaum sechs Spannen über den
Köpfen der Menge, seinen Jungen Futter zutragen. Das wurde mir zu einem
Bilde der Kirche Christi. Mitten im Toben und Treiben der lärmenden Welt
mit ihren Vergänglichkeiten läßt sich die Kirche nicht
beunruhigen und stören, sie geht ihrer Aufgabe nach, ihre Kinder zu lehren
mit dem Wort, das ihr anvertraut ist. Ihr gilt ja die Verheißung: "Dennoch
soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein ..."
Ich nahm auch teil an einer Sitzung des Exekutiv-Komitees der Luth.
Weltkonvention im Diakonissenhaus in Prag. Es waren anwesend Dr. Morehead, D.
Ihmels, D. Jörgensen, dann Pehrson, die Bischöfe Janaska und Zoch aus
der Slowakei. Von meiner Kirche nahmen teil Dr. Gummi, Dr. Veit und
Oberlandesrat Dr. Stadler. Die Gästesprachen zu uns voll Anerkennung
für die in Prag geleistete Arbeit und waren dankbar für den Einblick
in das Leben und die Sorgen unserer Diasporakirche. Ich kam auch in
Berührung mit dem Vizepräsidenten des Lutheran imigration Board of
Canada aus Winnepeg. - Beieiner Weltallianzkonferenz in Prag über die
Abrüstung, 1924, fragte ich Erzbischof Söderblom, warum er seine
Ansprache nicht in deutscher Sprache hielt, wodurch er doch von vielen besser
verstanden worden wäre? Er antwortete: "Die Sprache ist doch ein
Politikum." Nach ihm sprach Reichsgerichtspräsident Dr. Simons aus Leipzig
und hatte großen Beifall, obwohl er deutsch sprach. Da neigte sich
Erzbischof Söderblom zu mir und sagte: "Ich werde meine große Rede
morgen in deutscher Sprache halten." So geschah es auch.
Im Diakonissenhaus zu Prag konnte ich hundert deutschen Gästen über
unsere Lage berichten. Spieker antwortete ergriffen, D. Siegmund Schulze dankte
sehr warm. - Aus Anlaß des Geburtstages des Präsidenten Masaryk hatte
ich im großen Saal des Repräsentationshauses bei der Festfeier des
Tschechischen Kirchenbundes die Ansprache zu halten. Im Saale der slavischen
Insel sprach Minister Dr. Benesch über Frieden und Pazifismus ein und eine
halbe Stunde, und ich eine Viertelstunde über Abrüstung, vor
großer aufmerksamer Gesellschaft, das war am 22. 12. 1931. Benesch sprach
optimistisch, ich pessimistisch, Benesch ohne Beziehung auf die Kirchen und ich
mit Bezug auf die Arbeit der Kirchen für die Förderung des Friedens,
auch mit Bezug auf die Weltallianztagung zu Cambridge, der ich beigewohnt
hatte. - In Cambridge hatte mich Dr. Keller gebeten, mit nach Paris zu fahren,
damit ein Vertreter aus der Tschechoslowakischen Republik bei der Einweihung
einer amerikanischen Kirche dabei sein könne und das Wort nehme. Ich habe
deutsch gesprochen.
Bei einer Tischkonferenz mit Präsident Masaryk, die ich veranlaßt
hatte, in Befolgung der Beschlüsse obiger Weltallianztagung, fragte mich
der Präsident, ob ich ihn mit seiner Ansprache verstanden hätte. Ich
sagte: "Nein, Herr Präsident." Darauf er: "Da will ich Ihnen meine Rede in
Deutsch wiederholen." Ich erinnere mich nur des einen Satzes: "Die Kirchen sind
schuld an den Verhältnissen ..."
In Löbau nahm ich am 14. 10. 1934 am Jahresfest des Evangel. Bundes teil
und war hochbefriedigt über den Geist der Tagung und über die
Führung des Herrn Superintendenten Jagsch. Da war kein Kampf mit Rom,
sondern Zeugnis für die Bibel und die österreichische Not. - Ich
übergehe die Weltkirchentagungen in Kopenhagen, Stockholm, Paris und in
Maloia (Schweiz). Ich erwähne nur noch die Tagung des protestantischen
Weltverbandes in Podiebrad (Böhmen), wo ich eine Andacht zu halten und
einen Bericht über die Kirche zu geben hatte.
Zur Beerdigung des verstorbenen Staatspräsidenten fuhr ich nach Prag. Die
Vertreter der verschiedenen Kirchen waren in dem 7 km langen Zug etwa in der
Mitte eingereiht. Als der Sarg vor dem Bahnhof abgestellt wurde, begab sich
Consenior Nagy allein über die Straße dahin, wohl in der Absicht, als
Geistlicher sich bei der Abfahrt nach Lany zu beteiligen. Er kam aber zu uns
zurück. Wie ich nachfraglich hörte, war ihm nur erlaubt am Grabe
einige Bibelsprüche zu sagen. Damals war die Kirche schon beiseite
gestellt.
Durch die ungeklärten Verhältnisse in den Grenzrezeßgemeinden
sah ich mich veranlaßt, viele Reisen in den Friedländer Bezirk, in
die Grenzgemeinden, die nach altem Abkommen von Sachsen aus pastoriert werden
konnten, zu machen. In Prag wollte man dieses Abkommen abändern, und
unsere Pfarrer sollten diese Diaspora selbst versorgen. Auch das Hultschiner
Ländchen machte Sorgen. Es mußte von unserem Pfarrer und Kirchenrat
Herr in Troppau übernommen werden. Als der Anschluß des Sudetenlandes
an Deutschland kam, hörte diese Pflicht wieder auf.
Oftmals hatte ich nach Wien zu fahren, wo im Büro des Wiener
Oberkirehenrates die Südosteuropäische Vereinigung der Kirchen des
Ostens unter Bischof Glondys von Siebenbürgen zusammenkam, um unsere
gemeinsamen Anliegen zu beraten. Einigemal war auch der Ausland-Bischof von
Berlin, D. Heckel, dabei und gab uns wertvolle Anregungen. Mit Letzterem fuhr
ich einmal nach Agram zu dem jetzt schon lange verschollenen Bischof Popp, als
das Deutsche evangelische Gesangbuch der Jugoslawischen Kirche geschenkt wurde.
Bischof D. Heckel nahm mich einmal mit zum Staatssekretär Weizsäcker
in Berlin, wo ich freundliches Verständnis fand für mein Anliegen,
daß eine gewisse Hilfe für unsere Kirche weiter durch die Hand einer
kirchlichen Stelle gehen sollte, und zwar in Berlin. - Die Zeit vor dem 4.
Kirchentag 1932 war eine Übergangs- und Notzeit. Die Gemeindekassen waren
leer, viele Arbeitslose drängten zu den Türen der Pfarrer und zu den
Händen der helfenden Frauenvereine. Pfarrer und Laien wurden politisch
verdächtigt, auch wegen unserer Beziehungen zu den evangelischen
Brüdern im Reich. Um Staatsbürgerschaften der Pfarrer mußte
gekämpft werden, auch um Zulassungen von Diakonissen. Dann kam die
mächtige Einigung des sudetendeutschen Volkes im März 1938 und
brachte Zuversicht, aber auch eine schwere Endzeit unter dem tschechischen
Regime. Sieben Pfarrer wurden verhaftet. Darüber kann man lesen im zweiten
Teil des Buches von Endesfelder: "Evangelische Pfarrer im Freiheitskampf der
Ostmark" etc. Das Verhältnis zu den Staatsbehörden wurde schwierig.
Die Staatsunterstützung für die Pfarrgehälter, die sogenannte
Kongrua, hörte 1938 auf. Das Patent-Pauschale (sogenannt nach dem
Protestantenpatent) floß weiter für die Gemeinden im Protektorat.
Der wirtschaftliche Druck wurde durch Gaben des Gustav-Adolf-Werkes und des
evangel. Bundes uns erleichtert. Ein Wohltäter aus der Schweiz sandte
für die Arbeitslosen eine hohe Gabe und die Berliner Stadtsynode widmete
uns 100.000 RM für Reparaturen an kirchlichen Gebäuden.
Ein Kirchenrat (Hickmann von Dux) schrieb damals in seinem Bericht an die
Kirchenleitung: "Das sind unsere Gemeinden, so sehen sie aus? Sonst sind sie
nichts, als solche sorgenvolle Finanzapparate? Der Gegenwart nichts? Dem Volke
nichts? Ist denn Christus dazu in die Welt gekommen, daß wir 2000 Jahre
später zusammensitzen, um über Finanzsorgen der Gemeinden zu jammern?
Ist denn Luther unserem Volke geschenkt worden, damit wir 400 Jahre später
ängstlich fragen, ob wir auch werden halten können, was unsere
Väter im Glauben unter Blut und Tränen durch die Gegenreformation
hindurch gerettet haben? - Nein, und abermals nein, es geht die Offenbarung
durch unsere Gemeinden, daß wir eine Sendung für unser
Sudetendeutsches Volk zu erfüllen haben. Es geht vorwärts im
Gemeindeleben überall." Und es war so. Wir haben Höhepunkte
evangelischer Gemeinschaft und freudigen evangelischen Bewußtseins erlebt
in den aufeinanderfolgenden großen Gemeindetagen zu Arnau, Reichenberg,
Bodenbach, Teplitz, Karlsbad und Troppau. Das war wie ein Vorspiel der jetzigen
Kirchentage im Reich. Bei diesen Tagungen wuchs evangelisches Bekennen weit
hinaus über den Kreis der Einzelgemeinde und trat vor die
Öffentlichkeit. Wir erlebten auch lebendige Freizeiten der Pfarrer,
Religionspädagogische Tagungen und Frauenfreizeiten. Auch Konferenzen der
Kuratoren und einen Laientag in Troppau. Es gab erquickliche Singwochen, als
Wortverkündigung und tiefer Gemeinschaft der Teilnehmer. Der Präfekt
des Studentenheimes in Leipzig Mrozek hielt die Jungtheologen zusammen in
Freizeiten und durch Rundbriefe.
Als die deutschen Truppen ins Sudetenland einzogen auf Grund des Vertrages von
München, lag ich schwer krank danieder an Trombose und
Venenentzündung. Ich wußte nichts von dem, was draußen vorging.
Das Amt führte der Kirchenanwalt Dr. Krick in Reichenberg, und die
bewährten Beamten E. Fleischmann, M. Simm und H. Corazza halfen treulich
mit, mein Fehlen ausgleichen zu helfen.
In dieser Zeit wurde es immer schwerer die Akten im Rundlauf zu erledigen, da
die Mitglieder der Kirchenleitung weit zerstreut wohnten. Auch war die
Portofreiheit verlorengegangen. Die im Protektorat befindlichen Gemeinden waren
vereinsamt und sehr geschwächt. Evangelische Deutsche strömten jetzt
wohl viele aus dem Reich nach Böhmen und Mähren hinein, zumal viele
Schulkinder und Konfirmanden wurden da untergebracht. Ihre Erfassung für
den Religionsunterricht wurde wohl versucht, gelang aber nicht.
Am 10. November 1938 hatten wir den Beschluß gefaßt, uns an die
Reichskirche anzugliedern. Wir waren auch beim Kirchenminister Kerrl. Bei der
Verhandlung nahmen 12 Persönlichkeiten teil. Der Kirchenminister hat es
mir nicht übel genommen, daß ich seine Ausführungen über
ein Buch, das von Luther handelte, dreimal unterbrach, um drei Anliegen
vorzubringen für unsere Kirche. Für den Aufbau erhielten wir von der
Deutschen Evangelischen Kirche 44.450 RM, von Herrn Kirchenminister
6.002 RM! Von der Württembergischen Kirche kamen 13.122 RM, von
der Schlesischen Kirche 7.628 RM und von anderen Kirchen 7.345 RM.
Die Anspannung der Pfarrer und Vikare war groß. Sie hatten neben ihrer
alten Gemeindearbeit auch die vielen Garnisonen als Standort-Pfarrer zu
versorgen und 120 Lager von Rückwanderern aus Bessarabien, Wolhynien und
vom Schwarzen Meer her zu betreuen. Die Mitarbeit der Kirchenvorstandsglieder
war gehemmt und zum Teil aufgehoben. Wer der Partei dienen mußte, durfte
sich kirchlich nicht betätigen. Unsere evangelischen Schulen mußten
wir auflassen, es wurden aber Gemeindehelferinnen angestellt. Die
Auflösung der kirchlichen Vereine, insbesondere des Hauptvereins für
Liebestätigkeit und Pflege des evangelischen Lebens hat unsere Kirche arm
gemacht an öffentlichen Erweisungen der christlichen Liebe. Die
Diakonissen-Mutterhäuser von Zöptau und Doppitz wurden
aufgelöst. Auch der Sonnenhof für schwererziehbare Burschen in
Habstein bei Böhmisch-Laipa und das Waisenhaus in Haber wurden
säkularisiert. Wir kämpften um Haber, das doch Besitz der Kirche war,
aber der Landrat von Leitmeritz nahm uns einfach die Kinder weg. Offen lagen
wir da vor den Kirchen des Reiches, und sie erwarteten bei uns etwas anderes zu
finden, als die quälenden Verhältnisse von zu Hause. Sie nahmen an,
daß wir keine Zeit haben für theologische Streitigkeiten, sondern uns
betätigen als treue Leutepriester für die stets neuen Aufgaben.
Wenn sich bei uns einzelne deutsche Christen fanden, so gab es doch keinen
Kirchenkampf. Unsere Kirche führte ihr eigenes Leben, aber sie konnte sich
nicht von dem Protestantismus Deutschlands abschließen. So sind auch die
"Deutschen Christen" nicht unser Eigenbau gewesen. Diese Strömungen wurden
uns aus Sachsen und Thüringen hineingetragen. Wenn sich bei uns, bei den
großen Pfarrerkonferenzen Wortstreit erhob, so kam es doch nie zum Bruch.
Wir blieben in Abendmahlsgemeinschaft. Die Brüderlichkeit unter den
Pfarrern war warm und persönlich. In unserer Kirche wirkten sehr treue
bekennende Pfarrer. Aus der Slowakei waren zu uns zunächst vier Pfarrer
gekommen, die sich wohltuend zur Geltung brachten. Gegen Ende des Krieges
nahmen wir aus der Slowakei 23 vertriebene Pfarrer auf. Sie arbeiteten in den
durch den Krieg ohne Pfarrer verbliebenen Gemeinden.
Am 30. und 31. August 1940 wurde unsere Kirche in die Deutsche Evangelische
Kirche eingegliedert. Der Text der Einordnung war vorher zwischen uns und dem
geistlichen Vertrauensrat der DEK in Berlin vereinbart worden. Die Verordnung
trägt die Unterschrift des Leiters der Deutschen evangelischen
Kirchen-Kanzlei Dr. Werner. Der Vorsitzende des geistlichen Vertrauensrates Dr.
Hymmen war am 5. Kirchentag bei uns in Gablonz und sprach herzliche
Begrüßungsworte. Durch die Verordnung war an unserer
Kirchenverfassung wenig geändert worden. Aber das Kirchenamt, das an die
Stelle der Kirchenleitung trat, bestand nun aus dem Kirchenpräsidenten als
Vorsitzenden, dem Kirchenanwalt und einem Rechtskundigen Mitglied, einem
Kirchenbeamten der DEK, nämlich dem Herrn Oberkonsistorialrat
Krüger-Wittmack. Schon vor dem Anschluß arbeitete lange in Gablonz
Herr Konsistorialrat Hans-Martin Jeschke aus Berlin in der Kirchenleitung
gewissenhaft und verdienstvoll mit. Er wurde aber ins Feld abgerufen. Der neue
Kirchenausschuß bestand nun aus dem Kirchenamt und sechs
Oberkirchenräten, drei weltlichen und drei geistlichen. Sie arbeiteten
ehrenamtlich. Den Vorsitz hatte der Präsident zu fuhren. Die weltlichen
Oberkirchenräte waren Dr. Jelen aus Trautenau, der auch heute noch in
Berlin wohnhaft das Kirchenamt im Exil vertritt, Oberlandesrat Stadler, der
seit 1920 die juristischen Anliegen der Kirche bearbeitete und später auch
die Kasse führte (er fand in Prag ein tragisches Ende - Verhaftung,
Krankheit, Tod) und Graf Zedtwitz von Asch, aus altem evangelischen Geschlecht,
das in die Reformationszeit zurückreicht. Die geistlichen
Oberkirchenräte waren Kirchenrat Gerstberger, Kirchenrat Knorek und
Pfarrer Piesch jun. Gerstberger war in Haft gehalten worden und starb in
Deutschland. Knorek war auf acht Jahre in Haft und wurde im Mai 1953 entlassen.
Piesch war Bevollmächtigter für die Kirchenangelegenheiten im
Protektorat und wirkt jetzt in Kurhessen-Waldeck.
Ein gar wichtiger Beschluß auf Grund der Einordnung war die neue
Kirchenbeitragsordnung. Sie kam zustande in Verhandlungen zwischen uns, der
Statthalterei und der Kirchenkanzlei in Berlin. Sie ergab nach ihrer
Einführung wesentlich höhere Einnahmen. Jede Gemeinde hob die
Beiträge ein, durfte sich 25% behalten und hatte das übrige an das
Kirchenamt abzuliefern. Das Kirchenamt zahlte die Gehälter der Pfarrer
aus. Hand in Hand damit ging auch eine vorläufige Pfarrgehaltsregelung. Es
wurden beinahe die sächsischen Verhältnisse erreicht. Aber die
Ruhegehälter konnten wir noch nicht neu regeln.
Die Zugehörigkeit zum Reich brachte aber nicht nur eine
großzügige Förderung für die Entwicklung unserer Kirche, es
traten auch Hemmungen ein. Unsere Lehrer durften keinen Organistendienst tun.
Schulräume wurden nicht mehr für Gottesdienste überlassen. Der
Stillhaltekommissar nahm das Altenheim in Zöptau weg und auch das
Sanatorium der Diakonissen in Prag. Viele Fonds der evangelischen Gemeinden und
einige des Kirchenamtes wurden enteignet. Es waren Fonds, die wir bei der
Aufteilung des Vermögens der evangelischen Kirche AHB in Wien
übereignet bekommen hatten. Verboten wurde die Einweihung des Bethauses in
Breitenau. Eine Anzahl von Pfarrern durfte keinen Religionsunterricht geben.
Neue Laienkräfte wurden für den Religionsunterricht nicht mehr
zugelassen. Dieses Verbot traf auch Diakonissen. Pfarrer Albin Drechsler in
Weipert wurde in Haft genommen, weil er in der Adventszeit in seinem Amtszimmer
mit Schulkindern Lieder sang.
Ein unerfreuliches Telefongespräch mit der Telefonzentrale der
Statthalterei in Reichenberg war für das Kirchenamt eine
Überraschung. Unser Jurist verlangte die kirchliche Abteilung in
Reichenberg, darauf, kam die Antwort der Telefonistin: "Wollen Sie sich taufen
lassen?" Wir ließen ein neues Gespräch anmelden eine Stunde
später. Unser Kassenbeamter wiederholte die Bitte um eine Verbindung mit
der kirchlichen Abteilung. Die Telefonistin antwortete: "Sie sind wohl sehr
heilig?" Auf die schriftliche Beschwerde des Kirchenamtes schrieb uns die
Statthalterei, daß die Telefonistin verwarnt worden sei. Der
Regierungspräsident Dr. Vogeler in Reichenberg war uns stets freundlich
gesinnt.
Aber unsere inneren kirchlichen Angelegenheiten liefen gut. Das Gemeindeleben
war lebendig, die Gemeinden hatten ihre Schulden so ziemlich getilgt
Da kam im Mai 1945 der Zusammenbruch, und die Revolution brach aus. Unsere und
die altkatholische Kirche wurden von der tschechischen Regierung als
aufgelöst erklärt. Das Vermögen der Kirche und der Gemeinden
wurde beschlagnahmt. Die Verbindung des Kirchenamtes mit dem Ascher
Kirchenkreis mit West und Mittelböhmen hörte auf, bald auch die
Verbindung mit dem Mährischen und Schlesischen Kirchenkreis. Pfarrer der
Tschechisch-Brüderischen Kirche und einige Pfarrer der
Tschechoslowakischen. Kirche übernahmen die Aufsicht über unsere
Pfarrämter und die Gemeindegelder. Einige Monate bekamen unsere Pfarrer
noch einen monatlichen Gehalt von 2.000 Kc. ausgezahlt, andere Pfarrer
lebten von den Kollektengeldern, wozu das Kirchenamt die Erlaubnis gab. Dieses
konnte bei den Banken kein Geld mehr abheben, um Pfarrgehälter auszahlen
zu können. Der Synodalrat in Prag entsandte auf mein Ansuchen den Pfarrer
von Liebstadtel als Mitarbeiter ins Kirchenamt. Schließlich fand sich noch
ein tschechischer Aufseher aus Prag, über das Kirchenamt und sein
Vermögen ein, der jede Woche ein oder zwei Tage in Gablonz sich
betätigte und zugleich Aufseher über einige Gablonzer Gewerbe war.
Ich wurde zweimal aufgefordert abzuwandern. Man wollte mir die Möbel und
meine Ersparnisse mitgeben. Einmal kam ein tschechisch-brüderischer
Pfarrer aus Asch mit seinem Auto und wollte mich und meine Familie mitnehmen.
Ich blieb, denn ein Kapitän verläßt das Schiff nicht, wenn es
noch Fahrt hat.
Das Haus der Kirchenleitung blieb während des Durchzugs der Russen
verschont. Heute ist es unbewohnt und verwahrlost, die Regierung hatte uns
250.000 Kc zum Ankauf beigegeben. Aber am 4. Februar 1946 kam es zu einer
Hausuntersuchung. Die Polizei wollte das Protokoll der Teplitzer Pfarrertagung
vom Jahre 1938 haben. Dieses Protokoll war mir wohl nie zugekommen. Vielleicht
wurde es nie niedergeschrieben. Ich wurde zum Polizeipräsidium
geführt und kam nicht mehr zurück. Ich hatte von meiner lieben Frau
und den Töchtern mich kurz verabschiedet in der Meinung, daß ich in
einer Stunde wiederkomme. Im Polizeipräsidium lag eine umfangreiche
Anklageschrift gegen 15 österreichische Pfarrer und gegen 7 unserer Kirche
vor, auch gegen mich. Da erfuhr ich, daß 5 unserer Pfarrer verhaftet
wurden. Bei einem Verhör im Polizeipräsidium wurde ich gefragt, ob
ich 60.000 RM vom Gustav-Adolf-Verein bekommen habe. Ich sagte, meine
Kirche bekam wiederholt Hauptliebesgaben und Sammelgaben für die Gemeinden
und für ihre Liebeswerke. Nach 10 Tagen kam ich ins Reichenberger
Kreisgericht und blieb dort 6 1/2 Monate. Ich lernte kennen, was den lieben
Sudetendeutschen auferlegt ist und konnte nun sagen: "humani alienum in nobis
nihil est", d. h. nichts Menschliches ist uns fremd. - Mir selbst und den
anderen Mitgefangenen war das Neue Testament, was ich mir erkämpfte, eine
große Hilfe. Wir hatten täglich Andachten. Die meisten der neun
Gefangenen waren Katholiken, überaus schmerzlich war es für mich,
daß ich meine liebe Frau daheim in schwerer Krankheit verstrickt
wußte und sie nur einmal zwei Tage vor ihrem Tod auf eine Stunde besuchen
durfte. Am 5. Juni 1946 wurde ich zum Begräbnis meiner Gattin nach Gablonz
geführt, wo die ganze Gemeinde um das Grab versammelt war. Das war ein
sehr trauriges Wiedersehen und Abschiednehmen zugleich.
Am 19. August 1946 wurde ich ohne Verhandlung und ohne Urteil auf freien
Fuß gesetzt, aber ins Lager gebracht nach Reinowitz. Meine Befreiung
verdanke ich wohl den Interventionen von Auslandskirchen und der
Fürsprache des Tschechisch-Brüderischen Synodalrates in Prag. Ein gut
Teil hat dazu auch beigetragen, das unermüdliche Vorsprechen meiner
Töchter und auch der Sekretärin, Frau Hildegard Corazza, bei den
Untersuchungsrichtern. Als ich die Zelle verlassen durfte, schauten mir die
Mitgefangenen sehnsuchtsvoll nach, und der Aufseher, dem ich auf dem Gang
begegnete, rief mir zu: "Leben Sie wohl, Kamerad."
Nach zwei Tagen ging es mit meiner fünfköpfigen Familie und 1.000
Gablonzern über die Grenze. Ich hielt im Viehwagen, darin wir
untergebracht waren, mit Kisten, Körben und Koffern, eine Andacht
über Psalm 23: "Er führet dich auf rechter Straße um Seines
Namens Willen." Die Fahrt ging nach Brahlstorf im Mecklenburgischen. Drei
Wochen brachten wir in diesem Quarantänelager zu. Zweimal hielt ich im
Freien Andachten und auch die Abschiedsrede, als uns eine Schweriner Kommission
vor dem Abgang besuchte. In Ballenstedt endlich konnten wir unser
Reisegepäck herausbekommen und durften unserem eigentlichen
Bestimmungsort, Stollberg in Sachsen, entgegenfahren. Der dortige
Bürgermeister hatte auf die Fürsprache des Superintendenten Dr. Engel
hin uns telegraphisch Zuzug und Aufenthaltsbewilligung geschickt. Ich
fühlte in diesen Tagen keinerlei Beschwerden, aber ich genoß in
vollen Zügen die Freiheit. Uns wurde dann das große Glück
zuteil, in die frühere Wohnung meiner älteren Tochter hineinzukommen,
wenn auch vorerst in ein Zimmer. Die Möbel waren alle noch vorhanden. Das
Landeskirchenamt in Dresden hatte mir schon früher die Zulassung zur
Verwaltung der 2. offenen Pfarrstelle in Stollberg in die Hand gegeben. So ist
mir wieder eine Heimat geworden, und neue Freunde erstanden mir durch die
Betätigung in der Gemeinde. "a Christian never is of duty." So las ich in
"the weekly newsmagazine", als ein Wort des Bischof Dr. D. Dibelius. - Freilich
war das Amtieren im kalten Winter 1947, besonders das Halten der
Begräbnisse am Friedhof oft hart für mich in meinem Alter. Erst im
Jahre 1949 wurde die 2. Pfarrstelle wieder besetzt, und ich konnte den mir von
der Kirchen-Kanzlei in Berlin und von der Zentralleitung des
Gustav-Adolf-Werkes in Leipzig angebotenen Ehrensold annehmen. Dennoch predigte
ich noch weiter in den Gottesdiensten und in Bibelstunden, ein- bis zweimal im
Monat.
Meine Ausreise aus Sachsen am 29. März 1952 war veranlaßt durch
familiäre Gründe. In der Kirche wurde mir eine richtige
Abschiedsfeier in liebevollster Weise bereitet. Auf dem Wege zum Bahnhof
hörten wir das letzte Mal die Stollberger Kirchenglocke, die der mir immer
hilfsbereite Superintendent Helm uns zum Abschied läuten ließ. Es war
ein herzbewegender Augenblick, den ich nicht vergesse, auch der Abschied von
den Freunden am Bahnhof war ergreifend. Zu dem Interzonenpaß und zur
Ausreise mit den Möbeln verhalf uns das Landeskirchenamt in Dresden, und
den Zuzug nach Bayern verdanken wir dem Evangelisch-Lutherischen
Landeskirchenrat in München, Herrn Bischof D. Meiser, und mehreren
Ober-Kirchenräten, die mir unter allerlei Schwierigkeiten eine gute
Wohnung verschafften. Mein Schwager Adolf Heller, Kirchenrat i. R., und seine
Tochter Traude Schmidt erbaten diese Hilfe für mich.
Nach einer etwas abenteuerlichen Fahrt mit einem langen Kohlenzug von
Gutenfürst nach Hof, waren wir nun in Bayern und wurden in Feuchtwangen am
Bahnhof von Herrn Kirchenrat Dr. Hohenberger herzlich begrüßt, der
uns für einige Tage in sein gastliches Haus aufnahm. Mein 80. Geburtstag
wurde am 8. 4. 1952, also schon in Feuchtwangen, begangen. Das war der Auftakt
meines Einzugs in Bayern. Meine Verwandten und fünf Pfarrer meiner Kirche
waren um mich versammelt. Der Landrat, der Bürgermeister, die Pfarrer von
Feuchtwangen und der Kreisdekan von Ansbach im Auftrag des Herrn Bischof D.
Meiser begrüßten mich. Auch die Sudetendeutsche Landsmannschaft war
vertreten und viele Bürger der Stadt. Am Abend dieses Tages war uns
Umsiedlern seltsam zu Mute: "Dank ist es, der meines Lebens Schale zum Rande
füllt, Dank ist es, der alle Erdenschönheit Dir erst ganz
enthüllt.
Bald ergab es sich, daß ich im Westen gebraucht wurde. Ich predigte den
Sudetendeutschen in Stuttgart bei der großen Tagung, dann in
Schwäbisch-Gmünd, Weidlingen, Kaufbeuren, Neu-Gablonz, Frankfurt zum
heiligen Pfingstfest 1953 und 1954 zu München in Gegenwart von
Landesbischof D. Meiser. Das waren Tage des Wiedersehens und der Freude. Ich
konnte auch die Tagung des Weltluthertums in Hannover besuchen, traf aber
niemanden von den früheren Kirchenführern an. Sie sind wohl alle
abgerufen zur oberen Gemeinde. Mit den Pfarrern meiner früheren Kirche,
von denen 22 in Deutschland gestorben sind, kam ich schon fünfmal zusammen
und konnte mit Genugtuung beobachten und hören, daß sie sich zur
Geltung bringen und anerkannt werden in ihrer Treue und Hingabe an das neue Amt
und für die ihnen neu anvertrauten Gemeinden, und daß viele der
Gläubigen, was sie mitgebracht an Glaubensgut und kirchlicher Gesinnung,
in ihren neuen Gemeinden bezeugen.
Eine Gemeindeschwester, die vor Jahren in Turn wirkte, fragte mich in einem
Brief: "War denn alles umsonst, ist alles verloren, was wir geglaubt, gebaut,
gebetet und geopfert haben? Nein!", schreibt sie weiter, "sondern Gott nahm
uns, die wir seine Ernte sind, als Samen in seine Hand und streute uns aus
über die deutschen Lande, damit wir Frucht bringen, besonders in Gegenden,
wo das Evangelium nicht mehr herzlich geliebt wird." Stadtpfarrer Seifert in
Kaufbeuren sagte mir: "Wir waren eine sterbende Gemeinde, nun sind wir durch
Ihre Leute eine blühende geworden."
Schon seit dem Jahre 1947 war hier im Westen ein Hilfskomitee für die
Vertriebenen aus dem Sudetenland errichtet worden unter Vorsitz des Herrn
Pfarrer Robert Janik aus Neudeck, jetzt in Gerabronn. Er gab als Beilage zum
"Uracher Gemeindeblatt" ein Sonderblatt heraus, betitelt "Glaube und Heimat".
Er legte auch eine Kartei an mit wohl 30 000 Anschriften. Eine Zeitlang konnte
dieses Sonderblatt nicht mehr erscheinen, aber wir haben es in neuer Form
wieder aufleben lassen, als Beilage zum "Heimatboten", den Herr Pfarrer Eibich
von Melsungen, der frühere Pfarrer von Roßbach, seit Jahren für
seine verstreuten Gläubigen aus der Heimat versendet. Wir konnten schon
seit Weihnachten 1952, zu Ostern und Pfingsten jeden Jahres etwa 5.000 von
unseren früheren Kirchengliedern mit dem Beiblatt "Glaube und Heimat"
erfreuen.
Mit Sorgen weilen meine Gedanken oft bei den Zurückgebliebenen in
Böhmen, Mähren und Schlesien. Ich gab dem Kirchendienst Ost (unter
Lic, Dr. Kammel) Anschriften von Gablonzer Gemeindegliedern an, damit sie mit
erbaulichen Schriften beteilt werden. Jetzt leitet den Kirchendienst Ost Prof.
Lic. Kruska.
Pfarrer Zahradnik in Kirchfarrnbach, früher Superintendent in Teschen,
vertrat mich als Vertrauensmann für unsere Angelegenheiten in
München. In Marburg ist jetzt Pfarrer Adolf Jesch tätig, der in der
Gnadenkirche zu Teschen als Kirchenrat eingesetzt war. Wir hatten bei ihm eine
Zusammenkunft der Pfarrer und heiliges Abendmahl in der Kirche der heiligen
Elisabeth.
An Freuden und Ärgernissen war mein Leben reich. Mein früherer
Superintendent schrieb mir, als er mir sein Goldenes Kreuz mit Kette schenkte:
"Wer der Kirche dient, trägt das Kreuz."
Ja, ich habe das oft gespürt, aber ich sagte: "Herr, schicke was Du
willst, ein Liebes oder Leides, ich bin vergnügt, daß beides aus
Deinen Händen quillt."
Unendlich viele Feste wurden uns geschenkt, als wir noch in der Heimat waren.
So viele Grundsteinlegungen, Kirchenweihen, Jubiläen und Gemeindetage. Ich
denke in großer Dankbarkeit an meinen 70. Geburtstag, den der liebe nun
schon verstorbene. Kirchenrat Gerstberger von Eger plante und womit er mich und
meine Familie überraschte. Das letzte Fest, das für mich bereitet
wurde, war mein 25 jähriges Amtsjubiläum als Kirchenpräsident im
Jahre 1944 in Herst. Dieses Fest war mir ein Trost für die mir fehlende
richtige Amtsweihe für mein bischöfliches Amt in einem feierlichen
Gottesdienst. Aber auch die schlichte Form, in der ich am 2. Kirchentag, dem
bekennenden Kirchentag, herzlich und einmütig in mein Amt eingeführt
wurde, ließ mich damals nichts vermissen. Ich habe kein Dekret in der Hand
über dieses Amt, es wurde auch niemals ein Ruhegehalt des auf Lebenszeit
gewählten Präsidenten schriftlich festgesetzt, und so konnte ich auch
keinen Akt darüber vorlegen, als im Ostkirchenausschuß meine
Pensionierung genehmigt wurde. So geschehen am 1. 4. dieses Jahres.
Noch gedenke ich in großer Dankbarkeit daran, wie mir die Zentralleitung
des Gustav-Adolf-Werkes stets geholfen hat, wenn ich etwas schmal aussah. Zu
Gießen beim großen Gustav-Adolf-Fest, sagte der nun verewigte
Präsident Rendtorff zu mir vor der Versammlung: "jou must eat more
beefsteak".
So wurde ich einmal nach der Ostsee gesandt, und als ich zurück kam, sagte
man mir in Leipzig: "Jetzt können Sie zwei Kirchen leiten." Einmal wurde
ich in ein Erholungsheim nach der Tatra gesandt und konnte meine liebe Frau
mitnehmen. Dann durfte ich gar eine Seereise machen durchs Mittelmeer bis nach
Algier, Tanger, Lissabon und heim über Hamburg. Die vielen Erholungen, die
mir verschafft wurden, schenkten mir immer neue Kraft. Als ich einmal von
Stollberg aus an einem Glaubensgenossen, der Presbyter in Gablonz und ein
eifriges Mitglied des evangelischen Bundes ist, die Frage richtete, was ist der
Sinn unseres Opfers, weil wir Heimat und Kirche verloren haben, antwortete er:
"Den tatsächlichen Sinn zu erkennen, dazu gehöre ein Gott, der
über Zeit und Raum hinweg das über die Welt gehende Kausalgesetz
überblickt. Aber wir Sterblichen können fragen, wer hat geopfert und
wem wurde geopfert?" Dann schloß er mit dem Adventslied:
"Tuba mirum spargens sonum
ex sepulcris regionum
coget omnes ante
thronum.
Judex ergo cum sedebit
quidquid latet apparebit
nil inultum
remanebit."
(Wenn die Posaune ihren wunderbaren Ton erschallen läßt, vereinigt
sie alle aus dem Reich der Toten. Wenn dann der Richter zu Gericht sitzen wird,
wird alles, was verborgen war, erscheinen und nichts wird ungestraft
bleiben).
Wenn unsere Kirche vielleicht für manche Beobachter aussah, als ob sie
sich Selbstzweck zu werden drohte und sich selbst verabsolutieren wolle (ich
denke an ihre Grenzlage und die politischen Zeitumstände), dann war sie
für solche Beobachter eine Kirche ohne Hoffnung. Aber sie hat aus Sturm
und Drang sich tapfer hingekämpft zum Erbe der Väter, zum rechten
Glauben und zum Glauben an den wiederkehrenden Herrn, insbesondere in den
schweren Jahren 1937, 1938 und 1945 und 1946. Sie hat sich auch hingefunden zu
der Erkenntnis, daß ihr kirchliches "Sonderleben" recht relativ war und
interimistisch.
Nach allerlei Erfolgen blieb ihr der Enderfolg aus. Aber wir verstanden neu die
urchristliche Bitte, "es vergehe die Welt und komme das Reich". Als die 70
Jünger zurückkamen zum Herrn und in überschwenglicher Freude
ausriefen: "Es sind uns auch die Geister untertan in Deinem Namen, Herr", sagte
Jesus zu ihnen; "Nicht darüber freuet Euch, daß Euch die Geister
untertan sind, sondern darüber freuet Euch, daß Eure Namen im Himmel
geschrieben sind." - Und das ist ein großer Trost.
Ich schließe mit dem Gebet: "Herr, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit
und Treue, die Du an Deinem Knechte getan hast."