Maria Heinke-Propst
Die Deutsche Evangelische Kirche
in Böhmen, Mähren und Schlesien
1918 -1946[1]
Auf der Suche nach einem Weg im sich zuspitzenden Nationalismus
Mein Referat will den Weg der Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen,
Mähren und Schlesien von 1918 bis 1946 zeichnen. Dabei soll die nationale
Problematik besonders berücksichtigt werden. Das Referat gliedert sich in
sieben Abschnitte, die sieben zeitlichen Perioden entsprechen.
Das Jahr 1918 bringt das Ende der Habsburger Monarchie und die Entstehung der
Tschechoslowakischen Republik. Diese gewaltige staatliche Veränderung wird
von den deutschen und tschechischen Evangelischen völlig unterschiedlich,
teilweise gegensätzlich erlebt.
Tschechische Seite: Am 17. und 18. 12. 1918 vereinigen sich die
tschechischen Evangelischen A. und H. B. zur Ceskobratrská
Církev Evangelická (Evangelische Kirche der Böhmischen
Brüder)[2]. In der Erklärung der
Generalversammlung der neuen Kirche vom 17. 12. 1918 heißt es,
,,daß die Augsburger und Helvetische Konfession im Jahre 1781 der
Toleranzkirche aufoktroyiert worden sind''[3].
Dagegen soll nun bewußt an die tschechische Reformation von Jan Hus, an
die Utraquistische Kirche und die Brüderunität angeknüpft
werden.
Auf tschechischer Seite überwiegt die Freude über die Erfüllung
des 70 Jahre lang gehegten Wunsches, sich auf die eigenen tschechischen
Traditionen stellen zu können (vor allem auf die des Neuutraquismus und
der Brüderunität in ihrer reifen Ausprägung vor dem
30jährigen Krieg). Neben der lutherischen Confessio Augustana von 1530 und
der reformierten Confessio Helvetica posterior von 1566 werden nun die
Böhmische Konfession von 1575 und die Brüderkonfession in der
Ausarbeitung des Johann Amos Comenius von 1662 zur Grundlage[4], auf die sich die Evangelische Kirche der
Böhmischen Brüder stellt. Mit Freude und Stolz wird die Einheit der
tschechischen Evangelischen und die Unabhängigkeit von Wien gefeiert (ein
eigenes Zentrum in Prag, eine eigene Verfassung, eine eigene Fakultät und
Ausbildung entstehen).
Ganz anders ist die Gefühlslage bei den sich zunächst weiter als
Deutsch-Österreicher verstehenden evangelischen Deutschen auf dem Gebiet
der tschechoslowakischen Republik. Hier dominieren Trauer und Empörung
über den Zerfall der Monarchie. Die Deutschen fühlen sich zumeist in
den neuen Staat gezwungen. Die evangelischen Deutschen sind plötzlich
abgeschnitten von ihrem Zentrum, dem Wiener Oberkirchenrat. Erich Wehrenfennig,
der spätere Präsident der Deutschen Evangelischen Kirche in
Böhmen, Mähren und Schlesien, formulierte im Rückblick auf diese
Phase: ,,1918 entstand die Tschechoslowakische Republik. Da waren wir auf
einmal von Wien abgetrennt und ratlos''[5]. Mit
der Gründung der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder war
nun die Legitimation zur Bildung einer eigenen national verstandenen Kirche
gegeben.
Seit 1918 machte sich Erich Wehrenfennig, Senior des ostböhmischen
Seniorates, Gedanken über das Schicksal der evangelischen Deutschen in
Böhmen, Mähren und Schlesien. Er erwog den Zusammenschluß mit
Österreich, mit der bayrischen oder sächsischen Landeskirche sowie
das Verbleiben innerhalb des neuen tschechoslowakischen Staates. In der
kirchlichen Zeitschrift ,,Deutscher Glaube'' fragte er im Januar 1919 ,,Und was
wird aus unserer Kirche?''[6]
Mit der militärischen Besetzung der Grenzgebiete und den Ereignissen am 4.
März 1919 setzt sich langsam die Erkenntnis durch: Auch wir gehören
jetzt zum tschechoslowakischen Staat. Österreich, so wie es einmal war,
wird es nicht mehr geben.
Auf die kirchlichen Verhältnisse bezogen, heißt das: Die alte
Evangelische Kirche in Österreich A.B. und H.B. (also Augsburgischen und
Helvetischen Bekenntnisses) hat aufgehört zu existieren; der Wiener
Oberkirchenrat wird nicht mehr die Zentrale für die evangelischen Kirchen
auf tschechoslowakischem Staatsgebiet sein.
Zudem schafft die Gründung der Evangelischen Kirche der Böhmischen
Brüder als Zusammenschluß der tschechischen Evangelischen aus den
beiden Kirchen A.B. und H.B. im Dezember 1918 Tatsachen, die die deutschen
Evangelischen zum Handeln nötigen.
Der Identitätskrise folgt die Neuorientierung: Wenn es evangelische
Verkündigung auch unter den Deutschen in Böhmen, Mähren und
Schlesien weiterhin geben soll, müssen neue Kirchenstrukturen geschaffen
werden. Zur Gründung der Deutschen Evangelischen Kirche in der
Tschechoslowakischen Republik (so der offizielle Name bis 1922) kommt es auf
dem 1. Kirchentag in Turn am 25. und 26. Oktober 1919. Etwas von dem
Gefühl des Gezwungenseins klingt aus den Worten des Vorsitzenden, Johannes
Marschner, der die Vertreter/innen der Gemeinden begrüßt ,,Der Not
gehorchend, nicht dem eignen Triebe, sind wir hier zusammengekommen, um ein
neues Haus zu bauen.''[7]
,,Der Not gehorchend'' - dieses Erleben von Gedrängtsein anstelle von
freiwilliger Entscheidung wird hineingenommen in die ersten Jahre der
Tschechoslowakischen Republik, klingt zwischenzeitlich ab und spielt in der
Krise der 30er Jahre wieder stärker eine Rolle.
Bereits im Februar 1920 wird die neue Kirche durch das Kultusministerium
staatlich anerkannt.[8] Doch noch fehlt ein
sicheres Fundament, ökonomisch wie theologisch.
Im Frühjahr 1920 wird von staatlicher Seite die Gewährung des
Staatspauschale, das seit 1861 den evangelischen Kirchen zugesichert war,
bestätigt und auf einer gemeinsamen Sitzung von Deutscher Evangelischer
Kirche und Evangelischer Kirche der Böhmischen Brüder aufgeteilt.
Eine gewisse ökonomische Basis ist somit gegeben.
Doch theologisch ist das Fundament noch nicht tragfähig. Grundsatz 2 der
Kirche lautet: ,,Sie bekennt sich zum Evangelium Christi und den
Grundsätzen der deutschen Reformation.''[9]
Von verschiedenen Seiten kommen nun aber die Anfragen zum Namen und
Bekenntnisstand der Kirche:
Am 20. Februar schreibt der Synodalsenior der Evangelischen Kirche der
Böhmischen Brüder, Josef Souèek, an Senior Zilchert, der Name
der Kirche ,,treffe nicht zu''[10]. Eine
Begründung wird nicht angeführt; möglicherweise spielt die
Kritik auf die einseitige Nennung des lutherischen Bekenntnisses in den
Grundsätzen an, da es auch Gemeinden H.B. unter den deutschen Gemeinden
gibt.
Auch von einer anderen Seite kommt Kritik: Im April 1920 wendet sich
Kirchenpräsident Erich Wehrenpfennig an den Gustav Adolf-Verein und das
National Lutheran Council of America und bittet um Geld für den Aufbau der
Kirche. Während der Gustav Adolf-Verein spendet, tut sich für das
National Lutheran Council of America ein Problem auf: das fehlende
ausdrückliche lutherische Bekenntnis der Deutschen Evangelischen Kirche in
der Tschechoslowakischen Republik. Dem Komitee unter Leitung von Professor
Morehead scheint die Konfession zu wenig eindeutig, zu allgemein evangelisch.[11]
Dadurch ausgelöst beginnt eine heftige interne Auseinandersetzung um Name
und Bekenntnisstand der Kirche. Die Diskussion wird verschärft durch das
Aufeinanderprallen verschiedener theologischer Prägungen und
Frömmigkeitsformen der einzelnen Kirchenkreise. So sind der Ascher und der
Schlesische Kirchenkreis traditionell lutherisch, Asch dabei volkskirchlich,
der Mittel- und vor allem der Nordböhmische Kirchenkreis stärker von
Modernisierung, Liberalismus und Los-von-Rom-Bewegung geprägt.
Die Frage für die neue Verfassung heißt: In welchem Verhältnis
sollen Nation und Bekenntnis zueinander stehen? Soll die neue Kirche eine
nationale Kirche sein? Auf welches reformatorische Bekenntnis will sie sich
stellen?
Die Auseinandersetzungen kommen im Dezember 1920, auf dem 2. Kirchentag in
Turn, zu einem vorläufigen Abschluß. Die Verfassung steht im
Mittelpunkt der Verhandlungen:
§ 1 betrifft das Selbstverständnis der Kirche; ,,Die DEKiBMS steht
auf dem alleinigen Grund der Heiligen Schrift. Sie hält sich in ihrem
Leben an die Grundsätze der Reformation und in ihrer Lehre an das
evangelisch-lutherische Bekenntnis.''[12]
Deutlich wird jetzt das lutherische Bekenntnis hervorgehoben, obwohl das
Helvetische nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist. (1937 führen noch
7 Gemeinden in ihrem Siegel neben dem A.B. auch das H.B. Es gibt allerdings nur
eine einzige rein reformierte deutsche Gemeinde: Tschenko-witz, und diese wird
1926 zu Grulich eingepfarrt.)
§ 2 beschreibt die Zugehörigkeit zur Deutschen Evangelischen Kirche:
,,Zur Deutschen Evangelischen Kirche gehören dermalen alle deutschen
evangelischen Kirchgemeinden und Glaubensgenossen in Böhmen, Mähren
und Schlesien, die sich ihr anschließen.''[13]
D.h.: Die Zugehörigkeit wird abhängig gemacht von Nationalität
und freier Willensentscheidung.
§3: ,,Die Kirchen- und Unterrichtssprache ist ...die deutsche.''[14]
Auch am Namen der Kirche wird deutlich, daß das nationale Moment die
Klammer für die neue Kirche sein soll. ,,Deutsch'', steht jetzt an erster
Stelle, nicht mehr ,,evangelisch'' wie in der alten Österreichischen
Kirche. (Entsprechend verhält es sich bei den Namen von
Tschechoslowakischer Kirche und Tschechisch-brüderischer evangelischer
Kirche.) Das nationale Moment wird dem konfessionellen vorgeordnet.
Das Selbstverständnis der Kirche als deutsche Kirche bleibt ein Thema
für die nächsten drei Jahrzehnte. Während das Adjektiv
,,deutsch'' bei der Gründung der Kirche zunächst den Ort umschreibt,
an dem die neue Kirche wirken will, nämlich unter den Deutschen innerhalb
der Tschechoslowakischen Republik, fließen später stärker
nationalkirchliche Aspekte in das Verständnis der Kirche ein.
Im gesamten Zeitraum ihres Bestehens ist das Selbstverständnis der DEKiBMS
davon geprägt, daß sie sich als Kirche in doppelter Diaspora erlebt -
konfessionell und national. Die Deutschen im tschechoslowakischen Staat gelten
als nationale Minderheit, die Evangelischen unter ihnen stellen wiederum eine
geringe Gruppe dar - knapp 5% der Deutschen in der Tschechoslowakischen
Republik (1930: ca. 132.000, 1944: ca. 157.000 Mitglieder).
Kirchenpräsident Wehrenfennig schreibt später: ,,Aufgabe unserer
Kirche ist es, das Evangelium festzuhalten und zu bezeugen in doppelter
Diaspora als evangelische und deutsche Minderheit im Staate und aus dieser
Kraftquelle die Weisheit zu finden, ihren Weg zu gehen mitten unter der
großen Mehrheit katholischer deutscher Volksgenossen und den
andersnationalen Kirchen dieses Landes.''[15]
Neue Probleme ergeben sich aus der vor 1918 unbekannten Stellung als nationale
Minderheit. Dies äußert sich besonders im Bereich der Sprache.
Die deutsche Sprache ist keine zweite Staatssprache geworden und wird deshalb
in Öffentlichkeit und Verwaltung nicht als Amtssprache benutzt. Davon
fühlt sich ein Großteil der Deutschen im Kern der Identität
getroffen.
Die DEKiBMS gerät in den Konflikt zwischen den Maßgaben des Staates,
der auf Tschechisch mit ihr amtiert und amtliche Schreiben sowie
Matrikeneinträge ebenfalls in der staatsoffiziellen Sprache erwartet, und
ihrem eigenen Selbstverständnis, deutsche evangelische Kirche mit
deutscher Unterrichts- und Kirchensprache - also in gewisser Weise autonome
kirchliche Institution der evangelischen Deutschen mit Verwaltung in der
Muttersprache - zu sein.
Der ,,Sprachenstreit'' füllt mehrere Aktenordner der DEKiBMS und zieht
sich bis in die 30er Jahre und mehrfach bis vor das Oberlandesgericht in Prag.
Hauptsächlich geht es dabei um
- Matrikeneinträge der Deutschen Evangelischen Kirche, um
- Amtssiegel, die auch in tschechischer Sprache geführt werden sollen,
sowie um den
- Schriftverkehr mit staatlichen Ämtern.
Zwei Beispiele stehen hier für viele[16]:
- Das Ministerium des Innern hat am 11. 7. 1924 entschieden, daß
Geburtsausweise unehelicher Kinder in Prag nicht in deutscher, sondern in
tschechischer Sprache auszufertigen sind, da Prag keine mindestens 20%
erreichende deutschsprachige Minderheit aufweise. Also haben auch die deutschen
Pfarrämter entsprechende Scheine in tschechischer Sprache auszustellen.
Die DEKiBMS beschwert sich beim Obersten Verwaltungsgericht in Prag dagegen.
- Dr. Ferdinand Schenner, Senior des Mährischen Kirchenkreises, wird im
Mai 1925 zu 10 Tagen Arrest bestraft, weil er mit dem Brünner Stadtrat in
Matrikensachen in deutscher Sprache korrespondierte. Er legt am 27. Mai
1925 Berufung ein.
Meinem Eindruck nach wird auf beiden Seiten mit großer Hartnäckigkeit
gekämpft. Das Fortbestehen der eigenen Nation bzw. deren
Entfaltungsmöglichkeit wird vor allem an den Erhalt der Nationalsprache
geknüpft.
Auf der tschechischen Seite - nach jahrhundertelangen Erfahrungen von
sprachlicher Unterdrückung bzw. Nicht-Gleichstellung mit der deutschen
Sprache - besteht ein hohes Bedürfnis, der eigenen Sprache alle Rechte
einer Staatssprache einzuräumen und diese Rechte mit niemandem teilen zu
müssen. Wohl nur so lassen sich die per Verwaltungsebene ergehenden
Beschränkungen und Demütigungen der nationalen Minderheiten (bis hin
zu angedrohten Gefängnisstrafen, wenn nicht tschechisch geantwortet wird)
erklären.
Doch auch für die deutsche Seite fördern die Akten teilweise eine
gewisse Sturheit und Momente von bewußter Abgrenzung gegenüber dem
tschechischen Bevölkerungsteil zutage. So fand ich in den Unterlagen kaum
einen Beleg für ein freiwilliges Sich-Einlassen auf die tschechische
Sprach- und Geisteswelt. Das Tschechisch-Lernen nach 1918 wurde zumeist
widerwillig ertragen. Die Pfarrer im ostschlesischen Gebiet predigten
traditionell mehrsprachig. Davon abgesehen stellt es aber eher eine Ausnahme
dar, wenn ein Pfarrer der Deutschen Evangelischen Kirche in
Böhmen,.Mähren und Schlesien freiwillig Tschechisch oder Polnisch
lernte. - Ein latent vorhandenes Überheblichkeitsgefühl der
slawischen Geisteswelt gegenüber läßt sich nicht verkennen. Ich
möchte ein Beispiel dafür geben, wie auch im tschechoslowakischen
Staat von der Deutschen Evangelischen Kirche die deutsche Sprache als
Tagungssprache selbstverständlich vorausgesetzt wird:
Am 6. Februar 1922 findet in Prag die Sitzung des Tschechoslowakischen Zweiges
der Weltallianz für Freundschaftsarbeit der Kirchen statt, wobei die
Mehrheit der Beteiligten Tschechen und Slowaken sind. Im Protokoll der
Delegation der DEKiBMS findet sich folgende Bemerkung: ,,Die ganze Verhandlung
bis auf das Anfangs- und Schlußgebet fand in deutscher Sprache statt und
zwar infolge der Bemerkung Dr. Gummis, wenn tschechische Ansprachen gehalten
werden, verstehen wir es nicht.''[17]
Der lange Sprachenstreit weist auf die tiefe Problematik hin, die darin lag,
staatlicherseits die Deutschen zur ,,nationalen Minderheit'' zu erklären.
Diese Rolle wird nicht bzw. nur erzwungenermaßen akzeptiert.
Abgesehen von den Auseinandersetzungen in der Sprachenfrage stellt der Zeitraum
1923-26 aber eine Phase der Konsolidierung für die DEKiBMS dar. Die Kirche
entscheidet sich dafür, aktiv in die Gesellschaft hinein zu wirken. Dies
wird auch auf ihrem 3. Kirchentag im September 1926 in Gablonz deutlich. Er
heißt der ,,soziale'', weil auf ihm hauptsächlich die Organisierung
der Inneren Mission und ihrer Einrichtungen (Diakonissenhäuser,
Waisenhäuser, Kinderheime) verhandelt wird.
Die Konsolidierung zeigt sich auch an einer gesteigerten Bautätigkeit und
dem Entstehen neuer Predigtstationen. (Durch die Los-von-Rom-Bewegung gibt es
auch in dieser Zeit noch viele Beitritte zur DEKiBMS. Bis 1918 sind auf diese
Weise ca. 30 000 Menschen dazugekommen, d.h. 1/3 der damaligen Mitglieder.)
Während zunächst eine weitere Konsolidierung der DEKiBMS
Erleichterung schafft und sie gleichzeitig den tschechischen und slowakischen
Evangelischen gegenüber offener macht, ist ab 1930 die
Weltwirtschaftskrise mit ihren Auswirkungen besonders in Nordböhmen stark
zu spüren. Die Spannungen wachsen, die Fronten werden wieder
härter.
In dieser Zeit spielen die Auseinandersetzungen um den Beitritt in den Bund der
Evangelischen Kirchen in der Tschechoslowakischen Republik, der 1927
geschlossen wurde, eine große Rolle. Es gibt innerhalb der DEKiBMS starke
Befürworter eines Beitritts, aber auch starke Gegenstimmen. Dies war schon
auf dem 3. Kirchentag im Jahre 1926 deutlich geworden, als sich der Ascher und
der Schlesische Kirchenkreis für einen Beitritt zum Kirchenbund
ausgesprochen hatten, der Westböhmische Kirchenkreis eine ablehnende, der
Mittelböhmische eine bedingt zustimmende und der Ostböhmische
Kirchenkreis eine abwartende Haltung eingenommen hatte.[18]
Letztendlich erweisen sich die Befürworter der Abgrenzung gegenüber
den andersnationalen Kirchen als stärker. Der Beitritt zum Bund wird
vorläufig abgelehnt. Präsident Wehrenfennig spricht auf der
Gründungsveranstaltung als Gast ein Grußwort; ,,Wenn wir in die
Zukunft blicken, so mag wohl einmal Epheser 2, 19-22 für das
Verhältnis der Deutschen zum Bunde Geltung bekommen: ,nicht mehr
Gäste und Fremdlinge'. Wir wollen Vertrauen haben, auch wenn wir eigene
Wege gehen. Einig wissen wir uns schon jetzt im Dienst unseres gemeinsamen
Meisters, des Heilandes Jesu Christi.''[19]
An dieser Stelle möchte ich einen Exkurs einflechten betreffend das
Verhältnis der Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren
und Schlesien zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder, mit der
die deutschen Evangelischen eine gemeinsame Geschichte innerhalb der
Evangelischen Kirche in Österreich verband. Dieses Verhältnis
möchte ich hier kurz beleuchten, wie es sich aufgrund des Aktenordners
,,Synodalausschuß''[20] darstellt. Es
erfuhr in den Jahren der Ersten Republik mehrfache Veränderungen:
Umbruch und Neuorientierung (etwa 1918-1923)
In der Umbruchszeit bestehen kaum Kontakte. Die beiden Kirchen befinden sich in
einem Nebeneinander. Beide suchen eine neue Position im neuen Staat. Sie
treffen sich in gemeinsamen Forderungen dem Staat gegenüber. Spannungen
ergeben sich bei der Trennung bisher national gemischter Gemeinden, z.B.
Mährisch-Ostrau und Friedek.
Annäherung und Abgrenzung (etwa 1924-1926)
Zu beobachten ist eine vorsichtige Annäherung beider Kirchen.
Gegenseitiges Kennenlernen wird - zumindest auf der Leitungsebene - jetzt
angestrebt. Es kommt zu einem gemeinsamen Vorgehen in Fragen der finanziellen
Absicherung. Die Bildung eines Kirchenbundes wird erörtert.
Beginn freundschaftlicher Beziehungen (etwa 1927-1929)
Z.B. der Fakultätsausflug der Husfakultät am 30. April 1927 findet
nach Gablonz statt. Präsident Wehrenfennig bittet um Professor Ferdinand
Hrejsas deutsche Informationsschrift von 1928 über die Evangelische Kirche
der Böhmischen Brüder.
Der Annäherungsprozeß stagniert (1930-1938)
Die nationalen Spannungen verschärfen sich, damit auch die Distanz. Ein
gemeinsames Vorgehen in Sachen einer internationalen protestantischen
Kreditgenossenschaft ist nicht mehr möglich. Nach der Besetzung der
Sudetengebiete werden zumeist Formalitäten zwischen beiden Kirchen
geklärt.
Tiefstand (1939-1945)
Es bestehen kaum Kontakte, lediglich formaler Art (z.B. wegen des Endes der
Staatsunterstützung für die Kirchen im Mai 1939).
Umkehrung der Verhältnisse (1945/46)
Die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder Kirche bekommt eine
Schutz- und Mittlerfunktion für die DEKiBMS gegenüber den
tschechoslowakischen Staatsorganen, vor allem gegenüber dem
Nationalausschuß.
Während der Beitritt zum Kirchenbund abgelehnt wird, wirkt die Deutsche
Evangelische Kirche jedoch bei anderen ökumenischen Gremien aktiv mit:
- auf den großen Weltkonferenzen der kirchlichen Bewegung für
,,Praktisches Christentum'' (Life and Work) 1925 in Stockhom sowie für
,,Glaube und Kirchenverfassung'' (Faith and Order) 1927 in Lausanne und 1937 in
Oxford
- im Tschechoslowakischen Zweigverein der Weltallianz für
Freundschaftsarbeit der Kirchen, Weltkonferenz in Prag 1928,
Beispiele für konkrete Ergebnisse der ökumenischen Zusammenarbeit
finden sich u.a. im Bericht des Vikars Kurt Freude, der im September 1933 an
einer Tagung der tschechisch-brüderischen Jugend in Trebechowitz teilnahm:
,,Einen tiefen Eindruck machte auf mich das ganze Lagerleben, dann die
Aufrichtigkeit und wirkliche Brüderlichkeit der Leute untereinander.''[21] Vikar Freude schlägt am Ende seines
Berichtes vor, daß es viel mehr solcher Möglichkeiten des
Kennenlernens geben müßte, auf gemeinsamen Freizeiten, bei
gemeinsamen Feiern, bei gemeinsamem Abendmahl, durch Veröffentlichung von
Aufsätzen in den Kirchenblättern der anderen. ,,Die wichtigste
Vorbedingung wäre wohl zunächst die Ermöglichung der Erlernung
der anderen Sprache.''[22]
Ab 1930 ist die Weltwirtschaftskrise vor allem in den industrialisierten
Gebieten Nordböhmens stark zu spüren. Sie bringt Arbeitslosigkeit und
Armut mit sich und - indem die Deutschen verhältnismäßig stark
betroffen sind - neue nationale Spannungen.
Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und den ersten
Eingriffen des Staates in die kirchliche Gesetzgebung kommt es in Deutschland
zum Kirchenkampf, in dessen Verlauf sich vor allem die Anhänger der
,,Glaubensbewegung Deutsche Christen'', die ein ,,arteigenes Christentum''
propagieren und die der sogenannten Bekennenden Kirche, die Bibel und
Bekenntnis dagegen setzen, gegenüberstehen.
In den Strudel dieser Auseinandersetzungen gerät nun auch die DEKiBMS.
Theologiestudenten bekommen den Kirchenkampf an deutschen Universitäten zu
spüren, Kirchenpräsident Wehrenfennig auf Sitzungen des Gustav
Adolf-Vereines in Deutschland, in dessen Vorstand er von 1930-1939 Mitglied
ist, und auf anderen Tagungen. Die Akten lassen eine kritische
Auseinandersetzung mit den theologischen Standpunkten der Deutschen Christen,
des weiteren mit der sogenannten ,,Deutschen Glaubensbewegung'' und ihrer
Grundlage, dem von Alfred Rosenberg verfaßten ,,Mythos des 20.
Jahrhunderts'', sowie mit der Bekennenden Kirche zunächst vor allem bei
Kirchenpräsident Erich Wehrenfennig und einzelnen Pfarrern erkennen, ab
Mitte der 30er Jahre bei einem Großteil der Pfarrerschaft. Es ist deutlich
zu bemerken, daß Wehrenfennig den Pfarrern einerseits Orientierung geben,
den Kirchenkampf aber gleichzeitig von seiner Kirche fernhalten möchte.
Möglicherweise liegt hier ein Hindernis bei der Herausbildung einer
eigenen tragfähigen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus.
Allerdings erstaunt die Fülle der hochaktuell gehaltenen Themen zu
Examensarbeiten und -predigten
für Kandidaten der evangelischen Theologie, die Kirchenpräsident
Wehrenpfennig Anfang der 30er Jahre vergibt und mit denen er einen
begründeten theologischen Standpunkt herausfordert.
Beispiel:
- Amtsprüfung Robert Janik 1934: Hausarbeitsthema-,,Die Bekenntnisfront
und die DC - Eine Gegenüberstellung ihrer Grundgedanken und Ziele'' ,
Vortragsthema- ,,Die Angriffe des Tannenberg-Bundes, insbesonders der Frau Dr.
Ludendorff, gegen die evangelische Kirche und das evangelische Christentum''[23].
- Auch sucht der Kirchenpräsident in dieser theologisch wichtigen
Angelegenheit Kontakt zur Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder.
Ich zitiere seinen Brief vom 9. Mai 1935 an den Dekan der
Hus-Fakultät, Professor Josef L Hromádka: ,,Sehr geehrter Herr
Professor! Es ist die Frage aufgetaucht, ob wir nicht für die zweite
Prüfung (Amtsprüfung) das Thema stellen könnten: ,Eine
evangelische Antwort auf den Mythos des XX. Jahrhunderts' von Rosenberg. Nun
ist aber dieses Buch verboten. Ist es denkbar, daß eine Stelle dieses Buch
zu wissenschaftlichen Zwecken zu beziehen erlaubt? Die Verwirrung, die dieses
Buch anrichtet, ist groß und immer wieder wird in kirchlichen
Blättern darauf Bezug genommen und dagegen gekämpft. Unsere Theologen
sollten darum Bescheid wissen.''[24]
Immer wieder ist in Akten aus dieser Zeit gleichzeitig aber Wehrenfennigs
Bemühen zu bemerken, den Kirchenkampf von seiner Kirche fernzuhalten, um
die kleine Kirche nicht weiter aufzuspalten.
Die Wirtschaftskrise betrifft auch die evangelischen Sudetendeutschen stark.
Arbeitslosigkeit und Armut wachsen und damit Resignation und Verunsicherung.
Als Mitte der 30er Jahre durch die von der Regierung verfolgte einseitige
Wirtschaftsförderung (Aufträge vor allem an tschechische Betriebe)
die wirtschaftliche und soziale Lage im Sudetengebiet immer noch schlechter, in
Deutschland aber - zumindest nach außen hin - besser wird, bröckelt
die Loyalität gegenüber dem tschechoslowakischen Staat weiter.
In der Mitte der 30er Jahre befindet sich die DEKiBMS in einer
ökonomischen und geistlichen Krise, die aber die Loyalität dem
tschechoslowakischen Staat gegenüber noch nicht grundsätzlich in
Frage stellt.
Zwei Stellungnahmen der Kirchenleitung 1935/36 sollen dazu als Beleg dienen:
Der Bericht vom August 1935. Präsident Wehrenfennig spielt sowohl auf die
ökonomische als auch auf die geistliche Gefährdung an: ,,Es ist klar,
daß die Lage unserer Deutschen Evangelischen Kirche unter der allgemeinen
Wirtschaftslage eine recht schwere geworden ist.... Seit dem Umsturz haben 27
Pfarrer unsere Kirche verlassen und gingen ins Ausland. Die uns im letzten Jahr
verließen - etwa 5 - taten es, weil sie sahen, wie schwer die Gemeinden
den Gehalt aufbringen. ... In Eger haben wir eine Apologetische Mittelstelle
unserer Kirche errichtet... Sie befaßt sich mit all den Problemen, die
gegenwärtig die Kirche beunruhigen / Volkstum und Kirche - Kirche und
Staatsdenken - Stellung zum Alten Testament - Laienbewegung etc. ... Der
geistige Zusammenhang unserer Diaspora mit dem kirchlichen Deutschland ist
für uns eine Lebensnotwendigkeit und wird hoffentlich aufrecht bleiben
können. Wir wünschen aus tiefster Seele eine Beruhigung in der
politischen Spannung unserer Tage, damit wir dem Reiche Gottes mit ganzer
Hingabe dienenkönnen.''[25]
Das zweite Votum belegt, daß es noch 1936 die Erkenntnis gibt, jetzt
größere kirchliche Freiheiten als im alten Österreich zu haben.
So schreibt Graf Albrecht Zedtwitz von Asch, Mitglied der Kirchenleitung, in
einem Aufsatz über die Rechtslage der DEKiBMS: ,,Zusammenfassend kann
gesagt werden, daß sich die Lage der Kirche im Vergleich zu dem
früheren Österreich nicht verschlechtert, in vieler Hinsicht dagegen
verbessert hat. Der tschechoslowakische Staat hat das Kirchenproblem in
großzügiger Weise gelöst. Wenn unser Urteil darüber
gegenwärtig dadurch beeinträchtigt wird, daß auf einem Gebiete,
dem sprachlichen, Anforderungen gestellt werden, die wir als eine
Beschränkung des uns zustehenden nationalen Charakters der Kirche
betrachten, so muß dies aus dem Gesichtswinkel der derzeitigen politischen
Verhältnisse, ... und einer in gewissen Kreisen bestehenden nationalen
Überreiztheit betrachtet werden.''[26]
Doch die ,,nationale Überreiztheit'' auf beiden Seiten ist nicht zu
unterschätzen und wächst Mitte der dreißiger Jahre weiter.
Die Sudetendeutsche Heimatfront, später Sudetendeutsche Partei genannt,
wird zum Sammelbecken der Enttäuschten und Unzufriedenen. Bei den
Maiwahlen im Jahre 1935 wird sie mit über 60% der deutschen Stimmen zur
stimmenstärksten Partei im Staat. Das gibt Konrad Henlein Mut zu immer
schärferen Forderungen. In dieser Zeit setzt sich in der Partei die
nationalsozialistische Orientierung durch. Die Verlockungen, die vom
Großdeutschen Reich ausgehen, werden nun ins Programm der SdP eingespeist.
Ab Herbst 1937 wird die Sudetendeutsche Partei zu Hitlers Filialpartei[27].
Innerkirchlich ist für die zweite Hälfte der 30er Jahre der
Mittelböhmische Gemeindetag in Teplitz am 23. Mai 1937 bedeutsam, auf dem
die Fragen nach der Zielrichtung des Evangeliums, nach dem Verhältnis von
Volkstum und Christentum von einer großen Gemeindeversammlung bedacht und
besprochen werden. Am Ende wird eine Entschließung verabschiedet, die sich
gegen die Verweltlichung des Volkslebens wendet. Zwei hauptsächliche
Gefahren der Verweltlichung werden für das Volk benannt: erstens: der
Bolschewismus; zweitens: ,,Wenn es sein Volkstum zur Gottheit erhebt''[28]. Das Verhältnis von Volkstum und
Christentum wird theologisch folgendermaßen bestimmt:
,,Wir bekennen uns zum Volkstum als einer Schöpfungsordnung Gottes; Volk
ist nicht das Ergebnis eines Zufalls, sondern Werk des göttlichen Willens.
Wir erkennen aber auch das Menschlich-Unvollkommene in jedem Volkstum. Es wird
ständig von innen her bedroht und bedarf deshalb einer erlösenden und
heiligenden Kraft. Diese ist uns geschenkt in Jesus Christus, den wir nach der
Heiligen Schrift als den auferstandenen Gottessohn bekennen... Aus dieser
Kraftquelle muß jedes Volk schöpfen, das leben und bestehen will.''[29]
Die hier begegnende Theologie ähnelt der Volkstumstheologie von Professor
Paul Althaus in Erlangen, die für die DEKiBMS in ihrer spezifischen
Situation als Teil einer nationalen Minderheit wichtig wurde.
Im Sommer 1937 wird diese Problematik auch auf höchster
interkonfessioneller kirchlicher Ebene verhandelt. In Oxford findet vom 12. bis
26. Juli 1937 die Ökumenische Weltkirchenkonferenz der Bewegung für
,,Praktisches Christentum'' statt zum Thema ,,Kirche, Volk und Staat''.
Große Spannungen treten vor allem zwischen der deutschen und der
anglo-amerikanischen Auffassung von Volk und Nation zutage. Die Delegation der
DEKiBMS fühlt sich unverstanden.
Kirchenpräsident Wehrenfennigs Bericht über das innere Leben der
Kirche vom 26. Oktober 1937 macht eine steigende Unruhe deutlich: ,,Man wird
gegen uns mißtrauisch. / Die Frage an den altkatholischen Bischof, ob ich
loyal sei, die Frage eines Polizeidirektors an den Ortspfarrer über die
Stellung der evangelischen Kirchen zum Nazitum, die Frage eines Beamten im
Ministerium, warum reden ihre Pfarrer so viel?''[30] Und andererseits - wie zur eigenen Beruhigung
- schreibt er: ,, ...von der Zerrissenheit der Deutschen Kirche wissen wir
nichts. Die Deutsche Glaubensbewegung dringt wohl hie und da in die Turnvereine
ein und umnebelt junge Leute. Aber unsere Gemeinden haben noch einen
Schutzpanzer gegen solche Angriffe, weil Pfarrer und Gemeinde sich verstehen
und niemand an der völkischen Gesinnung des Pfarrers zweifelt. ''[31]
Auch die ,,Mutterkirche'' in Österreich befindet sich inzwischen in
wachsenden inneren Kämpfen. Ende September 1937 hat der Oberkirchenrat in
Wien allen Geistlichen den Beitritt zur ,,Vaterländischen Front''
empfohlen.[32] Manche Pfarrer wehren sich,
Superintendent Johannes Heinzelmann von Villach zum Beispiel. In seinem
Neujahrshirtenbrief zum Jahresbeginn 1938 setzt er sich von der kirchlichen
Entwicklung in Deutschland ab. Er warnt, daß es jetzt um's Ganze gehe.
Christus würde geleugnet, doch: ,,Es ist in keinem andern Heil als in
Jesus Christus.''[33]
Und was in Österreich passiert, wird von der DEKiBMS genau registriert. So
schreibt der Teplitzer Pfarrer und Schriftleiter des ,,Evangelischen Lebens'',
Adolf Jesch, am 17. Februar 1938 an die Kirchenleitung und informiert
über die Geschehnisse um Superintendent Heinzelmann: Dessen Stellung in
Österreich sei erschüttert, er hätte die Stelle als
Vertrauensmann der Evangelischen Kirche in Österreich niedergelegt
aufgrund des Vorwurfs, er hätte Stellung genommen gegen das Dritte Reich
und für die Bekennende Kirche. Er wäre ,,Verräter am deutschen
Volk'' genannt worden. Jesch zitiert dann aus der Verteidigung des
Superintendenten Heinzelmann: ,,Aus alledem ergibt sich die Berechtigung des
Satzes, ,daß es drüben um's Ganze geht', um das Ganze des
Christenglaubens und um die Zukunft des deutschen Volkes, zu dem auch
Österreich zählt. Wir sind nicht blind gegen die großen
Leistungen sozialer Fürsorge im Reich; aber die Religion der Väter
ist ein zu großes Erbe, als daß es um eines Mythos willen auf's Spiel
gesetzt werden dürfte ... Wenn mein Hirtenbrief auch jetzt noch als
politisch empfunden wird, dann sage man mir, über was wohl sonst noch die
verantwortlichen Männer unserer Kirche reden sollen, wenn sie über
die Frage schweigen müßten, die heute die Lebensfrage unserer Kirche
geworden ist.''[34] Dazu schreibt nun Pfarrer
Jesch aus Teplitz: ,,Ähnliches liegt wohl auch bei uns in der Luft und
bedrückt mich täglich furchtbar. Das ist das, was mir die
Schriftleitung des ,,Evangelischen Lebens'' so furchtbar schwer macht. Man kann
doch nicht dauernd schweigen, da es um das ,,Ganze'' des Evangeliums ... geht.
Und beginnt man zu reden, so läuft man Gefahr, unter die
,,Volksverräter'' geworfen zu werden!''[35]
Der Anschluß Österreichs am 13. März 1938 und die
überwiegend positive Haltung der Evangelischen Kirche in Österreich
steigern die Spannungen innerhalb der DEKiBMS ins Unermeßliche. Noch
gewaltiger wird die Zerreißprobe zwischen dem groß gewordenen
Deutschland und dem tschechoslowakischen Staat, in dem die nationalen
Spannungen nicht mehr auflösbar scheinen.
Der Zugkraft, die von einem starken Deutschland ausgeht, erliegt nun auch die
DEKiBMS. Am 16. März 1938 ergeht der Aufruf Konrad Henleins, daß sich
alle Sudetendeutschen zu einer einheitlichen Partei zusammenschließen
sollen. Die DEKiBMS antwortet am 29. März 1938 mit einem Dankes- und
Glückwunschbrief. Ähnlich reagiert die österliche Pfarrkonferenz
in Teplitz-Schönau, die auch die Annäherung der evangelischen Jugend
an den Deutschen Turnverein beschließt.[36]
Am 1. Mai findet eine Kundgebung der Sudetendeutschen Partei in Gablonz statt.
Bei einem Massenzug durch die Stadt läuft Kirchenpräsident
Wehrenfennig in der ersten Reihe. Anfang Mai sucht der Evangelische Bund
(Inland) Fühlung mit der SdP und fordert dazu auch die Kirchenleitung
auf.[37]
In Deutschland erfolgt unterdessen endgültig die Vereidigung der
evangelischen Pfarrer auf Führer und Reichskanzler Adolf Hitler.
Standhafte Bekenntnis-Pfarrer hatten sie bisher abgelehnt. Für die DEKiBMS
muß das heißen: Nun fällt die letzte Bastion des offiziellen
kirchlichen Widerstandes in Deutschland, die Bekennende Kirche. Es gibt -
zumindest in Deutschland und Österreich - keinen Rückhalt mehr
für Widerstand.
Im Sommer 1938 überstürzen sich die Ereignisse. Kriegsgefahr liegt
über der tschechoslowakischen Republik. Auch Pfarrer der DEKiBMS werden
verhaftet. Adolf Hitler erklärt auf seiner Rede am 12. September in
Nürnberg, daß er die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete fordert.
Am 17. September wird die Sudetendeutsche Partei für aufgelöst
erklärt. Mit dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938, auf
dessen Grundlage die Sudetengebiete an Deutschland abgetreten werden, hoffen
die Westmächte, den Frieden in Europa zu retten. Die Tschechoslowakische
Republik fühlt sich verraten.
Wie reagiert die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und
Schlesien?
Wehrenfennig schreibt in seiner Autobiographie: ,,Als die deutschen Truppen ins
Sudetenland einzogen auf Grund des Vertrages von München, lag ich schwer
krank danieder an Trombose und Venenentzündung. Ich wußte nichts von
dem, was draußen vor sich ging.''[38]
Und doch wird in seinem Namen ein Telegramm nach Berlin geschickt, das Freude
und Begeisterung über den Anschluß ausdrückt. In der
Kirchenleitung wie in der Gesamtkirche überwiegen diese Gefühle. Die
Eingliederung in das Deutsche Reich erscheint als Erfüllung lange gehegter
Wünsche, als Aufwertung, rechtliche Gleichstellung und Entlastung von
finanziellen und kulturell-sprachlichen Sorgen.
Wehrenfennigs Bericht zur kirchlichen Lage vom Herbst 1938 beginnt unter dem
Jeremia-Wort ,,Pflüget ein Neues!'' so:
,,Wir sind Kirche, wir waren jedenfalls auf dem Wege, aus Diaspora Kirche zu
werden, und jetzt gilt es noch mehr, die Würde, die in diesem Begriffe
liegt, zu betonen und Kirche zu bleiben. Wir haben die frohe Botschaft zu
verkünden und damit Gemeinde zu bauen und zu erbauen. Dabei sind wir
niemandem im Wege, damit stehen wir unter dem Schutz des Führers, der
Zehntausenden von Priestern, die ihre kirchlichen Pflichten richtig
erfüllen, solches zugesagt hat.''[39]
Daran klammert sich der Kirchenpräsident; doch es ist eine
trügerische Hoffnung. An die Pfarrer und Gemeindevorsteher richtet er
unter den geänderten Bedingungen folgenden Anspruch: ,,Wollen wir doch im
Sudetenland beides behalten, eine aufrichtige Bürgerschaft im Reich und
eine bewußte Bürgerschaft im Reiche Gottes. Von den Amtsträgern
unserer Gemeinden, welche etwa nun in einen Zwiespalt kommen zwischen
völkischer und kirchlicher Pflicht, erwarten wir, daß sie in ihrer
deutschevangelischen Gesinnung und Treue nicht im geringsten nachlassen werden.
Auch wenn sie derzeit von den wenigen Sitzungen der kirchlichen
Körperschaften fernezubleiben für nötig halten, werden sie doch
die gottesdienstliche Gemeinschaft weiter pflegen und damit der Gemeinde
dienen, die auf ihre innere seelische Zugehörigkeit nicht verzichten
kann.''[40]
In der Freudenstimmung wird zunächst von den meisten übersehen,
daß ein völlig anderer Geist einzieht, als sich viele gewünscht
und vorgestellt hätten. So reicht im nationalsozialistischen Deutschland
nachgewiesenes nationales Engagement nicht mehr aus, um als gute/r Deutsche/r
zu gelten. Jetzt geht es um den Erweis der Reinrassigkeit. In den Akten findet
sich das Beispiel eines Pfarrers, der laut Abstammungsurkunde als 1/8 Jude gilt
und nun Schwierigkeiten bekommmt.
Eine weitere Veränderung, die die DEK schon bald erfährt, ist die
Gleichschaltung der dem Staat gegenüber autonomen Körperschaften. Das
sudetendeutsche Vereinswesen - und damit auch die kirchlichen Vereine - wird
unter der Verantwortung des Stillhaltekommissars im wesentlichen
aufgelöst. Darunter fällt auch der Hauptverein für
Liebestätigkeit und Pflege des evangelischen Lebens. Betroffen sind davon
die evangelischen Diakonissenhäuser in Prag und Aussig, die Kinderheime
,,Sonnenhof'' in Habstein und die Anstalt in Jechnitz, das Schülerheim in
Eger, das evangelische Hospiz in Karlsbad, das Waisenhaus in Haber.
Ein weiterer Einschnitt erfolgt im Schulwesen: Die evangelischen Schulen -
mühsam durch die letzten Jahre gerettet - werden aufgelöst.
Der NSDAP erscheint die Kirche als unzuverlässige Partnerin. Deshalb
sollen bei der Umsetzung der sogenannten nationalen Revolution Partei und
Kirche möglichst wenig Berührungspunkte haben. Die Pfarrer
dürfen nicht in der Partei sein; sie werden aller nationalen Ämter
enthoben. Die Kirche ,,mußte sich ebenso wie die Pfarrer als
volksfeindlich, ja volkszersetzend bezeichnen lassen''[41], schreibt Pfarrer Dr. Ernst Lehmann im
Rückblick. Mit diesem Vorwurf sieht sich die Kirche nun konfrontiert.
,,Ein SA-Mann geht in keine Kirche'', heißt es bei der SA, die SS verlangt
den Kirchenaustritt. Es folgen viele Kirchenaustritte, auch die von vier
deutsch-christlich engagierten Pfarrern in den Jahren 1941-1943 (laut
Aktenbelegen sind das die Pfarrer Hans Rotter, Walter Reinisch, Ernst Lehmann
und Wilhelm Stoß).
Am 15. März 1939 erfolgt die deutsche Okkupation der sogenannten
,,Rest-Tschechei'' und am 16. März die Bildung des Protektorates
Böhmen und Mähren. Der eben zitierte Pfarrer Dr. Ernst Lehmann
bemerkt dazu: ,,Auch die Besetzung des Reststaates und die Errichtung des
Protektorates öffnete vielen die Augen. ... Der Begeisterung folgte bald
die Ernüchterung.''[42]
Manche erkennen nun furchtbare Wesensmerkmale des Nationalsozialismus
deutlicher als vor dem Anschluß, u.a. seine ihm eigene Kirchen- und
Christentumsfeindlichkeit. Mit Hilfe der ,,Gleichschaltung'' geht es um die
Ausschaltung der kirchlichen Einflußmöglichkeiten überhaupt.
Unter den Pfarrern gibt es beides: Anpassung an nationalsozialistisches
Gedankengut und Widerstand. Und es gibt vor allem die große Menge derer,
die deutschnational, aber nicht nationalsozialistisch (im Sinne des
Rasse-Gedankens und eines arteigenen Christentums) denken.
Der 5. und letzte Kirchentag der DEKiBMS am 30. und 31. August 1940 bringt die
Eingliederung in die Deutsche Evangelische Kirche im Deutschen Reich mit sich.
Die Kirche wird nun umbenannt in ,,Deutsche Evangelische Kirche im Sudetengau
und im Protektorat''. Der geistliche Ertrag dieser letzten Synode ist
dünn. Man sieht es schon an der geringen Menge von Akten, die dieser
Kirchentag im Vergleich zu den vorherigen hinterlassen hat. Der Bericht
über Innere Mission und Kirchenpflege beginnt mit der Frage: ,,Ist
überhaupt noch viel zu berichten, nachdem doch alle Vereine, die diese
Arbeit bei uns getragen, aufgelöst sind?''[43]
Der Pfarrer, der für diese diakonischen Einrichtungen verantwortlich war
und zusammen mit Präsident Wehrenfennig und Kirchenanwalt Krick um ihren
Erhalt als kirchliche Einrichtungen gekämpft hat, heißt Albin
Drechsler.
Im September 1941 wird Pfarrer Drechsler in Weipert von der Gestapo verhaftet
,,Erst viel später erfuhr ich durch einen katholischen Leidensgenossen,
daß man in mir den führenden Mann der Bekennenden Kirche im
Sudetenland sah und daß man durch meine Verhaftung auch die Evangelische
Kirche einschüchtern wollte.'' Nach 5 Wochen Gefängnis kommt er frei,
wird aber Anfang Dezember wieder verhaftet, ,,da ich im Pfarrsaal
Religionsunterricht erteilt hatte, trotz eines Unterrichtsverbots der
Schulbehörde, das sich aber nur auf Schulen erstreckte. Durch diese
Unterrichtsverbote wollte man nämlich den Religionsunterricht
allmählich beseitigen, dem sonst nicht beizukommen war.''[44]
Andeutungen zur Verfolgung und Ermordung der Juden tauchen in den Akten nicht
auf (ausgenommen Anforderungen von Ariernachweisen und ein Papier zur
Liquidierung von jüdischem Vermögen)!
Doch eine weitere Reglementierungsmaßnahme wird in einem Bericht von
Pfarrer Adolf Jesch aus dem Jahr 1942 beschrieben: Das Verbot, die
schlonsakische Sprache in Seelsorge und Gottesdienst zu gebrauchen. Die Zwei-,
teilweise sogar Dreisprachigkeit war eine jahrhundertealte kirchliche Tradition
im ostschlesischen Gebiet, die nun in ein von den Nationalsozialisten erhofftes
,,germanisches Großreich'' nicht mehr paßte.
Durch den Krieg wird die Aufrechterhaltung des kirchlichen Lebens weiter
erschwert.
Der wachsende Pfarrermangel läßt die Deutsche Evangelische Kirche im
Sudetengau und Protektorat die Türen öffnen für Pfarrer aus
anderen Gebieten des Deutschen Reiches. Drei von diesen nicht-sudetendeutschen
Geistlichen werden von der Gestapo in ihrer pfarramtlichen Tätigkeit
gehindert, indem ihnen die Unterrichtserlaubnis für Religionsunterricht
verweigert wird:
- Pfarrer Philipp Kreutz, der schon 1940 im besetzten Polen inhaftiert war und
dem ein zu nahes Verhältnis zu den Polen vorgeworfen wird,
- Pfarrer Wilhelm Rieck aus Pommern, weil er dort Kontakte mit einer
,,nichtarischen'' Familie hatte,
- Vikarin Luise Zorn aus Sachsen, die Mitglied der Bekennenden Kirche ist. Sie
ist im übrigen die erste Frau, die in den Dienst der DEKiBMS aufgenommen
wird.
Die Unterrichtsverbote werden zumeist nicht begründet. Präsident
Wehrenfennig kann sie oft erst nachvollziehen, wenn er sich alte Personalakten
der Betroffenen aus deren früheren Landeskirchen zuschicken
läßt.
Von den einheimischen Pfarrern erhält Pfarrer Georg Lehmann aus Asch
Unterrichtsverbot wegen seiner BK-Mitgliedschaft.
Die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus lassen auch manche
nationalkirchlich denkenden Pfarrer neu nach der Zielrichtung des Evangeliums
fragen. Kirchenpräsident Wehrenfennig schreibt in einem Brief vom
6. 10. 1944: ,,Ich bin überhaupt glücklich darüber,
daß immer mehr Pfarrer das rechte Verständnis für das, was
Kirche ist und Kirche sein soll, an den Tag legen. Der DC-Spuk ist in
Reichenberg, in Hermannseifen, in Morchenstern, in Friedland und Neustadt und
auch in der Vikarstelle in Gablonz vorüber.''[45]
Finanziell ist die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und
Schlesien durch die Eingliederung in die ,,Reichskirche'' entlastet worden;
doch gleichzeitig hat die Zugehörigkeit zum Großdeutschen Reich der
Kirche Gleichschaltung und Behinderung und allen Bevölkerungsteilen durch
den von Hitler begonnenen Krieg Leid und Elend gebracht.
Zu Anfang des Jahres 1945 ist Böhmen, Mähren und Schlesien
gefüllt von Flüchtlingsströmen, vor allem aus dem Osten. Das
stellt neue seelsorgerliche Herausforderungen an die Pfarrer. I
Im Sommer kommt es zu den sogenannten ,,wilden'' Vertreibungen von Deutschen,
die auch Gemeindeglieder der Deutschen Evangelischen Kirche betreffen. Die
Bestimmungen der sogenannten Bene¹-Dekrete vom 19. Mai 1945 erklärten
bereits die Deutschen zu unzuverlässigen Staatsbürgern und stellten
deren Besitz unter nationale Verwaltung. Die von den Alliierten auf der
Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 getroffenen Bestimmungen legalisieren
die bisherigen Maßnahmen der Vertreibung und Aussiedlung, versuchen aber,
sie in geordnetere Bahnen zu lenken. Die Deutschen verlieren am selben Tag -
ebenso wie die hier ansässigen Ungarn - durch ein neues Dekret des
Präsidenten Bene¹ ihren Anspruch auf die tschechoslowakische
Staatsbürgerschaft.
Von diesen Bestimmungen sind natürlich auch die evangelischen Deutschen
betroffen. Immer mehr von ihnen verlassen ihre Heimat in Richtung Deutschland
oder Österreich - teils freiwillig, teils gezwungen, oft eine Mischung aus
beidem.
Eine wichtige Rolle als Mittelsmann zwischen den evangelischen Kirchenleitungen
im besetzten Deutschland und der DEKiBMS spielt zu dieser Zeit Pfarrer Adolf
Zielke, der als polnischer Staatsbürger größere Autonomie und
Reisefreiheit besitzt.
Es folgt ein Exkurs über die Rolle Zielkes in den Verhandlungen mit den
Kirchenleitungen.
Adolf Zielke vertritt in den Verhandlungen die Deutsche Evangelische Kirche in
Böhmen, Mähren und Schlesien. Laut Aktenbelegen laufen die
Verhandlungslinien in zwei Richtungen: die eine geht nach Prag zur
Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB), die andere sucht
Fühlung zu den evangelischen Landeskirchen in den vier Besatzungszonen
Deutschlands und in Österreich.
Die Kontakte Adolf Zielkes zur EKBB sind bereits ab Mai 1945 belegt. Der Juni
1945 ist geprägt von Unsicherheit über die künftigen kirchlichen
Existenzmöglichkeiten. Manche Kirchenleitungsmitglieder raten zum
Abwarten, was die Regierung beschließt, andere wollen handeln.
Kirchenpräsident Wehrenfennig schreibt am 18. 6. einen eher
hoffnungsvollen Brief an Adolf Zielke, in dem er davon ausgeht, daß ihm
die Verwaltung der Kirche bleiben wird. Er ermuntert Adolf Zielke: ,,Es ist
voreilig, wenn Sie das Schicksal unserer Kirche schon für besiegelt
halten.''[46]
In den Sommermonaten 1945 setzt bei vielen ein Umdenken ein. In diesen Zeitraum
fallen die meisten der sogenannten wilden Vertreibungen, Plünderungen und
Exzesse, aber auch das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945, das die
Bene¹-Dekrete legalisiert. Nun wächst die Existenznot, auch innerhalb
der Kirchenleitung. Von Adolf Zielke sind zu dieser Zeit Kontakte nach
Österreich bekannt. Am 27. August 1945 bittet der Kirchenpräsident
Adolf Zielke darum, für ihn durch Herrn Lic. Lau ,,eine ähnliche
Berufung ausstellen lassen zu wollen, wie sie meinem Vetter Bischof May
für Österreich gegeben wurde''. Er ,,möchte für den Fall,
daß sich die Stimmung in Gablonz nicht bessert, die Möglichkeit
haben, wenn es sein muß, abzugehen.''[47]
Das Bleiben wird unsicher, viele Pfarrer wollen nun das Land verlassen. Doch es
ist nicht einfach, eine neue Anstellung zu finden. Adolf Zielke bemüht
sich zunächst in Sachsen für seine Kollegen. Am 7. September hat er
eine Aussprache im Landeskirchenamt Dresden, kommt aber nicht mit guten
Nachrichten nach Hause. In seinem Bericht heißt es: ,,Die Unterbringung
von Geistlichen ist in Sachsen nicht möglich. Die Zahl der freien Stellen
ist gering. Anspruch darauf haben in erster Linie die BK-Pfarrer. Es sind derer
nicht wenige, ungefähr hundert. Dazu kommen die vielen schlesischen
Flüchtlingspfarrer, die in ihre Heimat nicht mehr
zurückkönnen.''[48]
Eine wichtige Nachricht gibt es jedoch für den Kirchenpräsidenten. Er
ist zur Dienstleistung nach Stollberg/E. zugeteilt worden.
Bedeutsam für die Zukunft der meisten Pfarrer der DEKiBMS wird Adolf
Zielkes Teilnahme an der Sitzung des Rates der EKD in Deutschland, der am 18.
und 19. Oktober zusammen mit einer ökumenischen Delegation in Stuttgart
tagt. Es handelt sich um die Tagung, auf der die bekannt gewordene
,,Stuttgarter Schulderklärung'' entsteht.[49]
Aus den Akten wird ersichtlich, daß Adolf Zielke vor der
Ökumene-Kommission die Anliegen und Schwierigkeiten der DEKiBMS vertritt.
Zielke berichtet hinterher, daß die Ökumene-Kommission ihre Kontakte
zur EKBB nutzen will, deren Synodalrat mittlerweile eine Eingliederung der
DEKiBMS für möglich hält. Außerdem kommt es zu
Verhandlungen über die Aufnahme von Pfarrern der DEKiBMS in die Bayrische
und Württembergische Landeskirche. Für beide Landeskirchen
dürfen jeweils 15 Pfarrer eine Stelle beantragen. Doch Zielke berichtet
von folgender Einschränkung: ,,Wir sollen nur Pfarrer schicken, die auf
dem lutherischen Bekenntnis stehen. Unierte sind weniger willkommen. Sie
dürfen auch nicht DC sein. - Sie müssen schriftliche Unterlagen
bringen und zwar eine Entlassung ihrer Kirchenleitung und ein Gutachten
über ihre theologische Einstellung.''[50]
Die geforderten theologischen Gutachten schreibt Kirchenpräsident
Wehrenfennig im Laufe des November 1945 für Pfarrer, welche für die
Auswanderung in Frage kommen. Zunächst stehen 34 Namen auf der Liste, in
einem Anhang weitere drei, und wenig später empfiehlt der
Kirchenpräsident noch einmal zusätzlich vier Pfarrer zur
Übernahme.
Während sich nun viele Pfarrer auf die Auswanderung vorbereiten, hält
die Kirchenleitung über Adolf Zielke weiterhin Kontakt zur EKBB.
Mitglieder der Kirchenleitung haben ein Memorandum angefertigt, in dem die
Eingliederung der DEKiBMS in die EKBB beantragt wird. Am 30. November
sendet der KP die Eingabe für die Synode an Adolf Zielke, der sie an
EKBB-Synodale weiterleitet, die die Eingabe unterstützen wollen.
Im Dezember 1945 wird erkennbar, daß die Ausweisung der Pfarrer
unmittelbar bevorsteht. Damit stellt sich die Frage nach der
Zukunftsperspektive für alle bis jetzt gebliebenen Pfarrer und ihre
Familien. Exemplarisch für den Wunsch vieler steht wohl der Brief von OKR
Hugo Piesch an Adolf Zielke vom 2. 12. 1945, in dem es heißt:
,,Du müßtest eigentlich mit OKR Gerstberger zusammen nun für
alle irgend etwas vorbereiten, daß sie bei der Eingliederung nicht mit
leeren Händen dastehen.''[51]
Adolf Zielke schreibt verschiedene Empfehlungen und plant Mitte Dezember eine
Reise nach Bayern, um mit Bischof Meiser wegen der Übernahme weiterer
Pfarrer zu verhandeln. Daneben bleibt er mit der EKBB in Kontakt. Am 15.
Dezember schreibt er an Kirchenpräsident Wehrenfennig. Ihm liegt ein
Bericht von Pfarrer Chlebicek über die 1. Nachkriegssynode der EKBB vom
4. 12. 1945 vor. Zielke schreibt: ,,Pfarrer Chlebicek blieb bis zur
Erledigung unserer Eingabe, d.h. bis der Entschluß gefaßt wurde,
unsere Kirche einzugliedern. Allerdings muß dazu die Regierung ihr Placet
geben, und das dürfte m.E. die größte Schwierigkeit sein, die es
zu überwinden gilt.''[52]
Ab 1946 erfolgen die sogenannten geordneten Aussiedlungen. Für die
Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien wird die
Situation zunehmend hoffnungsloser - finanziell und personell.
Im Zeitraum zwischen Herbst 1945 und Frühjahr 1946 wird den meisten
Geistlichen klar, daß die Existenz ihrer Kirche im neuen Staat sehr
fraglich geworden ist. In dieser Zeit geht eine Fülle von Briefen zwischen
dem Präsidenten und seiner Pfarrerschaft hin und her. Vielfach wird die
Situation in den Gemeinden geschildert. Die Zeitspanne zwischen dem Kriegsende
und dem endgültigen Verlassen der Heimat durch die Pfarrer ist durch diese
Korrespondenz sehr gut dokumentiert. Exemplarisch steht der letzte Brief der
Vikarin Luise Zorn an den Kirchenpräsidenten vom 20. Februar 1946 für
den Entschluß, der Ausweisung zu folgen: ,,Hiermit möchte ich
mitteilen, daß am gestrigen Tage lt. Mitteilung des Okresni spravni komise
v Kadani an die Vertreter der brüderischen Gemeinde die Matriken der
deutschen evangelischen Gemeinde abgeholt worden sind; sie werden künftig
im Matrikenamt der Bezirksbehörde Kaaden aufbewahrt... Der deutsche
Gottesdienst ist seit Mitte Januar verboten. Nach Aussage des brüderischen
Kurators am 17. d. Mts ist das schriftliche Verbot kurz nach dem
mündlichen am 12. 1. erfolgt, man hätte mir das Schreiben nur
nicht mitgeteilt... Damit ist der sichtbare Teil meines Dienstes erledigt. Wenn
jetzt die Aussiedlung an mich herantritt, kann ich mich m. E. nicht mehr
weigern. Was sollte ich als Dienst noch angeben? Denn die Seelsorge ist nicht
faßbar. ''[53]
Die Pfarrer der DEKiBMS bitten nun um Übernahme in den Dienst der
Landeskirchen in den vier Besatzungszonen Deutschlands oder versuchen, nach
Österreich zu gelangen.
Einzelne Pfarrer werden vom Nationalausschuß verhaftet, so am 3. Februar
1946 Kirchenpräsident Erich Wehrenfennig, Oberkirchenrat Gerstberger,
Oberkirchenrat Knorek, OKR-Stellvertreter Drechsler, Pfarrer Strasser und
später Superintendent Zahradnik, Pfarrer Hofmann, Pfarrer Moj. Davon
bleiben mehrere Jahre in Haft: die Herren Knorek, Moj, Strasser und
Zahradnik.
Inzwischen laufen die Verhandlungen mit der Evangelischen Kirche der
Böhmischen Brüder um Eingliederung der Deutschen Evangelischen Kirche
in Böhmen, Mähren und Schlesien. Seit 11. Februar 1946 steht die
Kirchenleitung unter Verwaltung einer tschechisch-brüderischen Kommission.
Die Deutsche Evangelische Kirche ist als deutsche Institution rechtlos
geworden. Sie kann sich nur noch als Bittstellerin an die Evangelische Kirche
der Böhmischen Brüder wenden. Doch dies zu akzeptieren fällt
schwer. So ergeht am 17. Mai 1946 folgende Erklärung an die Gemeinden der
DEKiBMS, unterzeichnet von Oberkirchenrat Gerhard Hickmann: ,,Die
Kirchenleitung hat im Einverständnis mit dem ständigen
Kirchenausschuß im Anfang des Februars 1946 dem Synodalausschuß der
Ceskobratrska Cirkev Evangelicka folgenden Beschluß vorgelegt: ,,Die
Leitung der DEKiBMS als oberstes kirchliches Amtsorgan und zugleich als jenes
Organ, welches heute allein den Willen dieser Kirche ausdrücken kann, hat
sich entschlossen, indem sie unter den geänderten staatsrechtlichen
Verhältnissen das Schicksal der Kirche, welcher sie an die Spitze gestellt
wurde, in Rücksicht zieht und indem sie den engen Bindungen Beachtung
schenkt, durch welche die einzelnen Glieder des Weltprotestantismus ohne
Rücksicht auf die Völker, Geschlechter, Sprachen und Stände
untereinander verbunden sind, die DEKiBMS in die Evangelische Tschechische
Brüderkirche in der Weise einzugliedern, daß sie sich mit ihr in ein
Ganzes vereint, und ersucht, daß sie diese Kirche in ihren Verband
aufnehme.''[54] Verschlüsselt ergeht hier
die Mitteilung an die Gemeinden, daß die Kirche um Aufnahme bittet.
Oberkirchenrat Hickmann hat folgende Begründung dazugesetzt ,,Zu einer
solchen Entschließung hält sich die Kirchenleitung um so mehr
berechtigt, als beide Kirchen während der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie im Wesen eine Kirche bildeten.''[55]
Vermögen, Matriken und kirchliche Gebäude werden zunächst
kommissarisch von der EKBB und später auch von der Tschechoslowakischen
Kirche übernommen. Beide Kirchen hatten im Herbst 1945 in Memoranden ihre
Ansprüche auf die vorhandenen Gotteshäuser der Deutschen
Evangelischen Kirche angemeldet. Diese wird zwar erst durch Gesetz Nr. 131 vom
6. Mai 1948 aufgelöst, aber in § 1 dieses Gesetzes als am 4. Mai 1945
erloschen erklärt.
Per Gesetz 131/48 verfällt das Vermögen der DEKiBMS dem Staat, die
kirchlichen Gebäude werden in den meisten Fällen der
tschechoslowakischen Kirche zur Verfügung gestellt.[56]
Bruch und Getriebensein - dieses Erleben stand am Anfang der DEKiBMS im Jahre
1919; um vieles stärker beschreibt es ihr offizielles Ende im Jahre
1946.
[1]
Referat für die Jahrestagung der Gemeinschaft
Evangelischer Sudetendeutscher und der Johannes-Mathesius-Gesellschaft vom 28.
bis 30. April 2000 in Beratzhausen/Opf., in: Erbe und Auftrag 35-38, 2000,
S. 78-105
[2]
vgl. Hrejsa, F., a.a.O., S. 89
[3]
zitiert nach Bednar, F., Die Tschechisch-Brüderische Evangelische
Kirche, in: Ekklesia, S.131
[4]
Hrejsa, F., a.a.O., S.88; vgl. auch Otter, J., Die Evangelische Kirche der
Böhmischen Brüder, S.52
[5]
zitiert nach Sakrausky, O., Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen,
Mähren und Schlesien, Heidelberg. Wien 1989, Bd 1, S. 15
[6]
vgl. Sakrausky, O., a.a.O., S.16
[7]
Zitiert nach Pfeiffer, J., Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen,
Mähren und Schlesien, in: Ekklesia, S. 161
[8]
Sakrausky, O., Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren
und Schlesien, Bd 1, S. 27
[9]
Hickmann, G., Die Deutsche Evangelische Kirche in der Tschechoslowakischen
Republik, in: Die evangelische Diaspora. Monatshefte des Gustav Adolf-Werkes,
1. Jahrgang 1919/20, S. 198
[10]
zitiert bei Sakrausky, Oskar: Die Deutsche Evangelische Kirche in
Böhmen, Mähren und Schlesien, Bd. 1: 1919-1921.S. 23
[11]
vgl. Sakrausky, O., a.a.O., S. 29
[12]
zitiert nach: Sakrausky, O., a.a.O., S.23
[13]
zitiert nach: Sakrausky, O., a.a.O., S. 24
[14]
ebd.
[15]
zitiert bei Drechsler, A., Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen,
Mähren und Schlesien 1919-1945, in: Die Unverlierbarkeit evangelischen
Kirchentums aus dem Osten, hrsg. von E. Lehmann, Bd. 2, Heft 1, S. 23f
[16]
vgl.: Akten zur Sprachenfrage, in: Aktenordner I/B/3 R 895 und 896
[17]
Bericht über die Sitzung des tschechoslowakischen Zweigvereins der
Weltallianz für Freundschaftsarbeit der Kirchen am 26.1.1922, in:
Aktenordner I/B/4 R 904
[18]
Stellung der Kirchenkreise zum Kirchenbund, erarbeitet für den 3.
Kirchentag der DEKiBMS, in: Aktenordner I/E/2 R 32
[19]
ebd.
[20]
Mappe ,,Synodalausschuß'', in: Aktenordner I/B/4 R 902
[21]
Freude, K., Bericht über eine Tagung der tschechisch-brüderischen
Jugend in Trebochowitz vom 3. 9. 1933, in: Aktenordner II/B/1 R 915
,,Tschechoslowakischer Zweig der Weltallianz für Freundschaftsarbeit der
Kirchen''
[22]
ebd.
[23]
Akte ,,Amtsprüfung Robert Janik'', noch unregistriert, Archiv der
DEKiBMS , Prag
[24]
Wehrenfennig, E., Brief an J.L.Hromádka vom 9. Mai 1935, in:
Aktenordner III/D/2 R 705
[25]
Wehrenfennig, E., Bericht ,,Lage und Probleme der DEKiBMS'', August 1935,
in: Aktenordner I/D/1 R 75
[26]
Zedtwitz, A., Die Deutsche Evangelische Kirche in Böhmen, Mähren
und Schlesien. Bemerkungen zur Rechtslage von 1936, in: Aktenordner I/D/1 R
75
[27]
Deutsch-Tschechische Historikerkommission, S.31
[28]
Entschließung des Gemeindetages in Teplitz-Schönau am 23. Mai
1937, zitiert nach: Ekklesia. Eine Sammlung von Selbstdarstellungen der
christlichen Kirchen , hrsg. von F. Siegmund-Schultze, Leipzig 1937, Einleitung
des Herausgebers, S.25
[29]
ebd.
[30]
Wehrenfennig, E., Das innere Leben unserer Kirche, Bericht vom 26.10.1937,
S. 1, in: Aktenordner I/D/1 R 75
[31]
Wehrenfennig, E., a.a.O., S. 3
[32]
vgl. zum Folgenden: Akten ,,Österreichische Kirche'', in: Aktenordner
II/B/1 R 928
[33]
Heinzelmann, J., Neujahrshirtenbrief, in: Aktenordner II/B/1 - R 928
[34]
Jesch, A., Brief an die Kirchenleitung, in: Aktenordner II/B/1 R 928
[35]
ebd.
[36]
vgl. Brief des Evangelischen Bundes, Ortsgruppe Teplitz-Schönau, an die
Kirchenleitung vom 7.5.1938, in: Aktenordner II/A/2 R 385
[37]
ebd.
[38]
Wehrenfennig, Erich: Mein Leben und Wirken, Melsungen 1956, S.20
[39]
Wehrenfennig, E., Bericht ,,Kirchliche Lage'' vom Herbst 1938, S. 1, in:
Aktenordner I/D/1 R 75
[40]
Wehrenfennig, E., a.a.O., S. 1f
[41]
Lehmann-Piesch-Zahradnik, Um Glaube und Heimat. Evangelische Bausteine zum
sudetendeutschen Geschichtsbild, Melsungen 1957, in: Schriften der Gemeinschaft
evangelischer Sudetendeutscher e.V., Folge 3/4, S. 132
[42]
ebd.
[43]
Bericht über Innere Mission und Kirchenpflege, in: Aktenordner I/E/2 R
34: 5. Kirchentag der Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen,
Mähren und Schlesien in Gablonz an der Neiße am 30. und 31. August
1940
[44]
Drechsler, A., a.a.O., S.37
[45]
Wehrenfennig, E., Brief an Pfarrer Josef Mittag vom 6.10.1944, in:
Aktenordner I/F/1 Personalakte Johann Winkler
[46]
Wehrenfennig, E., Brief an Adolf Zielke vom 18. 6. 1945, in:
Aktenordner I/F/1 Personal Z
[47]
Wehrenfennig, E., Brief an Adolf Zielke vom 27. 8. 1945, in:
Aktenordner I/F/1 Personal Z
[48]
Zielke, A, Brief an Erich Wehrenfennig vom 7. 9. 1945, in: ebd.
[49]
Ob und inwieweit Adolf Zielke daran mitgewirkt hat, konnte ich bisher nicht
herausfinden. Dagegen ist belegt der Ausspruch des Kirchenpräsidenten auf
dem 1. Sudetendeutschen Kirchentag in Kassel 1959, die DEKiBMS hätte
sich von Anfang an hinter die Stuttgarter Schulderklärung der EKD gestellt
- ,,Erbe und Auftrag'' Heft 1 und 2.
[50]
Wehrenfennig, E., auszugsweise Wiedergabe eines Berichtes von Adolf Zielke
über dessen Fahrt nach Stuttgart im Oktober 1945, in: ebd.
[51]
Piesch, H., Brief an Adolf Zielke vom 2. 12. 1945, in: ebd.
[52]
Zielke, A., Brief an Erich Wehrenfennig vom 15. 12. 1945, in:
ebd.
[53]
Zorn, L, an Präsident Wehrenfennig am 20. Februar 1946, in: Aktenordner
I/F/1 Personal Z
[54]
Hickmann, G., Rundschreiben an die Gemeinden vom 17.5.1946, in: Aktenordner
I/F/1 Personal H
[55]
ebd.
[56]
vgl. Urban, R., Die Tschechoslowakische Hussitische Kirche, S. 209