Johannes-Mathesius-Gesellschaft
Evangelische Sudetendeutsche e.V.
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Èeská verze
Martin Wernisch, Prag

Die Unität der böhmischen Brüder -
Probleme und Chancen einer Minderheitskirche

Vortrag auf der Jahrestagung der Johannes-Mathesius-Gesellschaft
27.-29. April 2007 in Bad Kissingen

Das kirchengeschichtliche Phänomen der Brüderunität ist einerseits interessant, andererseits schwer faßbar. Beides hat mit ihrer bewegten Entwicklung zu tun: während der ersten Jahrhunderte ihrer Existenz machte sie beinahe mit jeder neuen Generation grundlegende Veränderungen durch.

Angesichts dieser Tatsache verzichte ich auf den Versuch, die Unität umfassend zu kennzeichnen und ihre Geschichte in ihrem ganzen Verlauf zu schildern. Wer in dieser Richtung weitergehen möchte und vor Details nicht zurückschreckt, kann auch in deutscher Sprache auf einige gründliche Studien zurückgreifen, welche zwar nicht aus neuester Zeit stammen, aber nach wie vor gültig sind. Verwiesen sei auf das einbändige Werk Die böhmischen Brüder - ihr Ursprung und ihre Geschichte stammt aus der Feder meines Vorgängers Rudolf Øíèan, eines ausgewiesenen Freundes der Deutschen - auch in den schwierigen Zeiten der Feindschaft zwischen unseren Nationen, das durch ein wertvolles Kapitel über die Theologie von Brüder von meinem unmittelbaren Lehrer Amedeo Molnár ergänzt wird, sowie auf die Geschichte der Böhmischen Brüder des ehemaligen Herrnhuter Archivars Josef Th. Müller, die noch ein wenig älter ist und ganze drei Bände füllt.

Ich möchte mich hier auf einen ausgewählten Punkt konzentrieren: die Probleme und Chancen einer Minderheitskirche, ihrer Entstehung und Profilierung. Denn hier handelt es sich wohl um eines jener die Geschichte der Brüder durchziehenden Themen, anhand dessen sich die spezifische, ja einigermaßen exotische Geschichte der alten Brüder nicht nur gut nacherzählen läßt, sondern das auch erlaubt, aus der Fabel eine Moral zu entnehmen, welche auch für uns heutige, unter sehr veränderten Umständen lebenden Christen von Bedeutung sein kann.

Zunächst ganz allgemein gesagt: Eine Minderheitskirche kann auf verschiedene Weise entstehen. In unserer Zeit beobachten wir, wie die einstigen Volkskirchen zur Minderheit schrumpfen. Für die Reformation des 16. Jahrhunderts war dagegen die Spaltung der bisherigen kirchlichen Einheit in eine konfessionelle Mehrheit und eine Minderheit typisch - vielfach verbunden mit einer territorialen Teilung. Im Millieu der reformierten Kirchen begegnen wir dann allerdings noch einer anderen Erscheinung: die mehr oder weniger bewußte Loslösung und Neugründung. Einzelne Kongregationen sagen sich von den Großkirchen los - bestimmte Gruppen entscheiden sich für die Separation, um zu "re-reformieren", wenn ihnen das bisherige Ganze nicht reformiert genug ist.

Den charismatischen Führern genügt oft ein einziger Anstoß, ein einziger neuer Akzent, um ihre Herde an einen entlegenen Ort zu führen, wo sie einen neuen Grund legen. So vermehren sich auch heute an manchen Orten kirchliche Denominationen wie Amöben. Im Laufe der Jahrhunderte haben wir uns daran gewöhnt, so daß es uns schon beinahe normal vorkommt. Aber eigentlich handelt es sich um ein zutiefst sektiererisches Verhalten - das besonders in der Anfangszeit starke Widerstände überwinden mußte. Es ist vielleicht nicht ganz uninteressant, sich heute zu vergegenwärtigen, worin diese anfänglichen Skrupel bestanden und wie die ersten "Separatisten" mit ihnen umgegangen sind. Die böhmische Kirchengeschichte bietet sich für eine solche Betrachtung an - gerade wegen des anomal frühen Beginns der Reformation in Böhmen. Hat es doch die einheimische evangelische Bewegung hier geschafft, sich noch vor dem anerkannten Beginn der eigentlichen Reformation in Form einer Landeskirche zu etablieren. Mehr noch, es fand sich sogar - ebenfalls noch vor Luther - eine noch radikalere Gruppierung, die sich von dieser Landeskirche wieder abtrennte: die Brüderunität.

Der Hauptgrund dieser Separation leuchtet uns ein. Zwar stand ihr eine große, legitime Idee im Wege. Die hussitische, oder besser: utraquistische Kirche, beharrte nämlich auf der Einzigkeit der christlichen Kirche und auf der Einigkeit der lokalen Kirche. Vielleicht können wir noch davon absehen, daß diese Einheit nach dem klassischen Modell des corpus christianum gedacht wurde, das erst später grundsätzlich strittig wurde - obwohl bereits der damalige Konflikt auch dieses betraff. Ganz offensichtlich war jedoch bereits zu jener Zeit, daß die Utraquisten für die Erhaltung des Einheitsbewußtseins und der Verantwortlichkeit gegenüber dem Ganzen einen hohen Preis zahlen mußten - einen Preis, den die Reformation des 16. Jahrhunderts nicht mehr bereit war zu zahlen. Diese wagte dann also auch den letzten Schritt in das abendländische Schisma - den eben die Utraquisten des 15. Jahrhunderts vermeiden wollten.

Das paradoxe Ergebnis der hussitischen Kriege war, daß die utraquistische Kirche zwar selbständig organisiert war, aber doch unter der Verwaltung einer der beiden Kammern des auch weiterhin gemeinsamen Konsistoriums stand. Die Kirche stützte sich also auf den evangelischen Glauben gegen das päpstliche Endchristentum, und doch erhielt sie die Bindung zu Rom aufrecht, weswegen sie dann grausam erpreßt wurde. Sie akzeptierte nämlich die Forderung einer ökumenischen Anerkennung der Weihbischöfe, die im Westen durch den Papst garantiert wurde - und dieser sprach sie den gewählten böhmischen Bischöfen nie zu. Demzufolge litten die Utraquisten einen Mangel an Priestern, noch schlimmer: sie litten auch unter der zweifelhaften Qualität solcher Priester, die sich ihre Legitimität durch Winkelweihen verschafften. Dafür hatte ihre Kirche den Frieden gewonnen, ein im Grunde ruhiges Zusammenleben, sowie auch die Möglichkeit wenigstens im Inland legal zu wirken. Einen weiteren Vorzug dieser Regelung stellte der organisatorische Zusammenschluß der böhmischen Reformationsströmungen dar - aber gerade dies gelang nur für eine kurze Zeit, und auch nur unter Einsatz von Gewalt. Bei der ersten Gelegenheit, als der Religionsfrieden 1467 vorübergehend aufgekündigt wurde, begehrte die Unität auf und gründete eine eigene, unabhängige Ordnung der geistlichen Verwaltung. Schon zehn Jahre zuvor hatte sie sich als gesonderte Bruderschaft innerhalb des Utraquismus organisiert (die Gründung wird gemeinhin auf das Jahr 1457 datiert), und schon früher wurde die Unität wegen ihres Sektierertums verfolgt. Aber erst 1467 tut sie mit vollem Bewußtsein den Schritt in die Selbständigkeit. Die ältesten Dokumente der Brüder halten ausdrücklich fest, daß es darum ging, "sich endlich von der Gewalt des päpstlichen Amtes und somit von seiner Priesterschaft loszureißen".

Wer waren diese Brüder, die einen solchen unerhörten Schritt wagten? Oder genauer: die ihn zu einem Zeitpunkt verwirklichten, da die kompetentesten Köpfe lediglich über die Möglichkeit diskutierten, aber vor der Tat stets zurückschreckten? Die Antwort ist eingermaßen klar. Wir haben es hier zweifellos mit einer ganz herausragenden Gruppe zu tun, mit dem Besten, was die utraquistische Kirche an Frömmigkeit und Askese zu bieten hatte, nicht aber mit einer intellektuellen Elite. Es fehlten unter ihnen auch höher gestellte Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Funktionen sowohl die Vorzüge als auch die Nachteile der Kirche überblicken konnten. Das heißt wiederum nicht, daß es sich nur um Randerscheinungen gehandelt hätte. Was die Brüder aber einte, waren verschiedene Haltungen, aufgrund derer sie sich so stark von ihrer Umgebung abhoben, daß sie sich schon seit längerem mit ihrer Minderheitenexistenz abgefunden hatten.

Es ist bezeichnend, daß unter ihnen zum Beispiel Mitglieder der beiden klösterlichen Kommunitäten vertreten waren, die in der eher mönchsfeindlichen Kirche noch weiterbestanden. Aber die ursprüngliche Kerngruppe bildeten beflissene Hörer der Predigten des gewählten Prager Erzbischofs Johannes Rokycana. Auch diese neigten allerdings zum Extremen. Das Medium ihrer Radikalisierung war - durchaus klassisch - eine ins Apokalyptische gesteigerte aktuelle Eschatologie. Diese war in der reformatorischen Predigt keineswegs ungewöhnlich; bei Rokycana ist sie ebenso zu finden wie später auch bei Luther. Nichtsdestoweniger konnte bei einfältigeren Hörern dieses im wesentlichen sekundäre Element nicht beabsichtigte Wirkungen auslösen. Durch Rokycanas Hinweis, wie gefährlich die letzte Zeit sei, daß der Antichrist alle heiligen Dinge zu mißbrauchen wisse und die Massen abgestumpft seien, wurden diese eher verängstigt. Sie erschraken angesichts der Möglichkeit, daß selbst in der utraquistischen Kirche viele - Laien, aber auch Priester - die Sakramente und den Gottesnamen ohne den heilsamen Glauben, also sich selbst zum Verderben gebrauchten. Der Erzbischof bemühte sich offensichtlich, seine Hörer durch diese rüttelnden Aufrufe zu guten persönlichen Beispielen anzuregen, womit er der bei weitem nicht idealen Kirche sicher gut gedient hätte. Nicht weniger offensichtlich überschätzte er jedoch die Differenzierungsfähigkeit der Angeredeten, die in ihrem Eifer möglicherweise verständnisvoller schienen, als sie wirklich waren. Sie selbst vertrauten ihren Fähigkeiten zumindest in einer bestimmten Hinsicht nicht viel: denn sie bezweifelten, ob sie unter solchen Umständen überhaupt eine Koexistenz mit der Mehrheit überhaupt durchhalten könnten. Die Warnungen stürzten sie also in eine tiefe Ungewissheit, ob sie in solcher Kirche das Heil erwarten können.

Einen folgenschweren Fehler begang der Erzhirte, als er dann seinen Predigthörern auch noch Peter von Cheltschitz empfahl. Dieser war einer der tiefgründigsten und interessantesten Denker seiner Zeit, allerdings auch ein natürlicher Einzelgänger, der seine Polemik schlechthin gegen alles richtete, was Namen und Rang hatte - leider ohne seinen Widersachern den gleichen Respekt zu erweisen, welchen diese ihm als einem prophetischen Exzentriker zu zollen bereit waren. Eben im Verhältnis zu Rokycana zeigte er er sich wenig großzügig - und untergrub erfolgreich die Autorität des Erzbischofs. Wenn dieser gegenüber seiner Kirche ach so kritisch sei, warum nehme dann er von ihr das Amt an? Gehe es ihm nicht vielleicht doch um Reichtum und Prunk? Und sei er dann nicht geradeso ein Heuchler, der selbst tue, was er für schlecht halte? Das klang für die Brüder sehr überzeugend. In der Folge beschlossen sie, den Priestern, selbst wenn sie gut predigten, nicht zu trauen, sofern diese weiterhin in den Strukturen verblieben, die für die Brüder unübersichtlich geworden waren, und sofern sie dabei auch Andersdenkenden dienen. Die Brüder wollten sich nunmehr lediglich an solche halten, mit denen sie in einer Kommune verbunden sein und zusammenleben würden, denen sie also auf die Finger sehen könnten. Nur solchen könnten sie bedingungslos gehorchen - und so mit ihnen wahrhaft einen Leib mit einem Geist bilden.

Es war vor allem diese strenge und störrische Haltung, die einen ein Anschluß an eine der damals bestehenden kirchlichen Gemeinschaften - sei es im Inland oder im Ausland, etwa zu den Ostkirchen oder zu den Waldensern - verhinderte. Mit den Waldensern kooperierten die Hussiten allerdings bereits längere Zeit, und die ersten Brüder standen mit ihnen in einem besonders vertraulichen Kontakt. Aber nicht einmal sie konnten den Anforderungen des brüderischen Perfektionismus genügen. Letzten Endes bildeten sie ja eine verborgene Gemeinschaft, die innerhalb der römischen Kirche existierte - auch wenn sie diese immer negativer beurteilten. Die Waldenser lebten in dieser Großkirche wie noti inter alienos, untereinander Bekannte unter Fremden, aber ihr Einfluß auf die Mehrheit beschränkte sich darauf, parallele Strukturen zu errichten. Darum blickten auch manche von ihnen hoffnungsvoll auf die Brüder, in Erwartung einer Gelegenheit, welche erst die reformatorische Umwelt bieten konnte - doch selbst dies war keineswegs selbstverständlich. Auf hussitischem Territorium fand sich dann tatsächlich ein ländlicher Ort, wo die Brüder beginnen konnten, die vorbildlich überschaubare Kommune mit patriarchalisch einfachen Verhältnissen zu verwirklichen. Damit engte der Kreis sich jedoch bedeutend ein, und die Hoffnung, daß sich auch genügend neue Priester von außen hinzukommen würden, war nicht sehr realistisch. Die theoretische Erwägung verband sich mit der praktischen Not - und die Brüder, die keine weiten Rücksichten pflegten, schritten zu einer weiteren Tat: zur Einsetzung einer eigenen Priesterschaft.

Bisher habe ich diese Tat eher als Ergebnis emotionaler Beweggründe in Verbindung mit einem eher beschränkten Gesichtskreis beschrieben - und dieses Element läßt sich wirklich aus den Quellen belegen: Die Kühnheit derer, denen eine theologische Bildung weitgehend fehlte, wurde noch zusätzlich dadurch beflügelt, daß sie nicht wirklich wußten, was sie taten. In Wirklichkeit war der Fall jedoch komplizierter. Auf den zweiten Blick ergibt sich jedoch ein etwas differenzierteres Bild. Die Aussagen der Brüder selbst sind alles andere als geradlinig. Bei den erhaltenen Dokumenten handelt es sich größtenteils um Überarbeitungen ein und desselben Ausgangstextes, nämlich eines Briefes an Rokycana. In den ersten Jahren nach dem Umbruch adressierten ihn die Brüder schrittweise auch an weitere Universitätsmeister, Herren sowie alle zusammen. Die Variationen ergeben jedoch kein klareres Bild - weder in der Beschreibung noch in der Begründung dessen, was sich tatsächlich abgespielt hatte. Die Argumentationskette wirkt eher zerstreut als geschlossen; die einzelnen Angaben sind oft überraschend verschwommen, weitere tauchen erst in den neuen Fassungen auf, teilweise scheinen sie einander zu widersprechen. Dafür gibt es zweifellos mehrere Gründe. Ein gewisses literarisches Unvermögen mag eine Rolle spielen; dazu kommt eine verständliche Vorsicht, konspirative Verschleierung: es ging immerhin um lebendige Personen, die Sanktionen zu befürchten hatten. Aber die erwähnten Schriftstücke durchzieht auch eine gewisse Spannung, die ihren Ursprung wohl teilweise im Inneren der Beteiligten hatte, und höchstwahrscheinlich auch in ihren Beziehungen untereinander. Die sehr unterschiedliche Herkunft der Brüder war nicht restlos in der Unität verschmolzen. Die apokalyptische Dringlichkeit vermochte zwar die Stimmen von konzilianteren Naturen und der akademischen Erudition in den Hintergrund drängen, doch dies war nicht auf Dauer möglich. Die Detektivarbeit an den Texten hat bereits eine Reihe von Forschern angezogen, die inzwischen ein ganzes Team von möglichen Mitverfassern entdeckt haben. Ihre auch durch andere, eher formale Kriterien bestätigten Ergebnisse, passen gut zum folgenden Bild:

Die Kontrolle über die Ereignisse wie auch die Textredaktion behielt Gregor der Schneider, der charismatische Führer der Gruppe, fest in der Hand. Er, ein aus dem Landadel stammender Laie, war offenbar eine jener suggestiven Persönlichkeiten, die anderen nicht nur 0äußeren Respekt abfordern, sondern imstande sind, sie bis zur Selbstidentifizierung zu bringen. Gregor achtete u.a. darauf, daß die höhere Bildung unter den ersten Brüdern nicht als geistliche Qualifikation angesehen wurde; durch die "professionelle Kunst" verteidigte sich ja Rokycana, in unverständlichen und weitschweifigen theologischen Debatten, zu denen er sich vom Antichristen verführen ließ. Indessen nutzte auch Gregor die Dienste derer, die wenigstens über partielle Universitätsbildung verfügten - diese jedoch mit der gehörigen Demut verbanden, die sie zu den Brüdern geführt hatte. Und wo anders konnte man ihre Kenntnisse besser gebrauchen, als dort, wo es um die Apologie vor einer Welt ging, die die Bildung hoch schätzte! So wurde ihnen offenbar doch eine beratende Stimme zuteil - teilweise bereits beim Akt selbst und mehr noch bei seiner Verteidigung. Und diese Stimme klang dann doch einigermaßen anders als Gregors eigene.

Gregor bezog das Recht, die Priester einzusetzen, in einer offenbar gewagteren Weise direkt auf die Gemeinde. Dadurch hat er sich ein Lob bei manchen reformiert gestimmten Historikern gesichert. Doch Gregor stützte dieses Recht auf eine Gottesunmittelbarkeit, die der Auffassung von einer Leitung der Menschen durch eine neue persönliche Offenbarung sehr nahe kommt. Darum wurden die neuen Priester auch nicht gewählt - nur die Kandidaten, zwischen denen dann das Los entschied. Dabei ließ das Losverfahren auch die Möglichkeit zu, daß keiner der Kandidaten zum Priester bestimmt würde - allerdings mit einer nur geringen statistischen Wahrscheinlichkeit. Die Brüder gaben letzten Endes offen zu, daß ein solches Zeichen bestenfalls einen Aufschub der Wahl bewirkt hätte. Trotzdem interpretierten sie die Tatsache, daß die weißen Zettel bei der Auslosung überhaupt nicht auftauchten, recht massiv. Und am massivsten deuteten sie, verständlicherweise, die Tatsache, daß auch derjenige unter den drei Auserlesenen seinen Platz bekam, den Gregor selbst namentlich unter ihnen zu sehen gewünscht hatte. Dann genügte die Versicherung Gregors, er hatte diesen Mann in seinen Träumen gar in der Stellung des ersten unter den Priestern gesehen, also des Senioren oder Bischofs, und niemand wagte mehr, in der Wahl etwas anderes zu sehen als die unmittelbare Kundgabe des göttlichen Willens. Auf den ersten Blick mag es vielleicht erstaunen, daß Gregor sich nicht selbst um diese Funktion bewarb; aber bei näherem Hinsehen ist diese Tatsache weniger verwunderlich: sein Kandidat war ein unbescholtener und braver Mann, der ihn aber keineswegs in der Führungsposition bedrohte und faktisch vielmehr nur zu einem Weihbischof wurde.

In der Unität galten die Gesichte Gregors einfach als Argument und seine Verfahrensvorschläge konnten sich durchsetzen. Andererseits waren sich die Brüder der Tatsache bewußt, daß sie das, was sie taten, auch vor den Augen der Welt taten, daß sie es auch nach außen zu erklären und zu vertreten hätten. Und sie wußten, wie schwer es sein würde, Außenstehende davon zu überzeugen, daß es sich bei den privaten Visionen nicht um teuflisches Blendwerk gehandelt hätte. Ja noch mehr: manche waren auch persönlich nicht bereit, sich auf solche Visionen zu verlassen. Gregor mußte in Kauf nehmen, daß seine Berater seine Gesichte bis zur Unkenntlichkeit verdünnten: in einigen Passagen klingt ihre Rede über die Traumerscheinung wie eine allgemeine Berufung auf die biblische Offenbarung und das testimonium internum, das innere Zeugnis des Heiligen Geistes, das sich auf die biblische Offenbarung bezieht.

Aber es war gar nicht nötig, einen internen Streit über die Vision oder Offenbarung zu beginnen, es genügte ja völlig, daran zu erinnern, daß nun die Frage der Ordination und eine Bestätigung im Amt an die Reihe käme. Und da sei es nötig, alles so rechtmäßig und ordnungsgemäß durchzuführen, daß die Brüderpriester auch von ihren fairen Gegnern gegebenenfalls als rite vocati anerkannt werden konnten. Auch darüber mußte ein Konsens gefunden werden, zwischen denen, die darin lediglich ein unwesentliches Zugeständnis an die Schwächeren im Glauben sahen, und denen, für die es sich um eine Gewissensfrage handelte.

Was dann folgte, ist ungemein interessant. Die neuen Priester wurden durch Vertreter der beiden Linien der apostolischen Sukzession geweiht, die die Brüder in ihrer Umwelt kannten, zuerst durch einen utraquistischen Priester aus den eigenen Reihen. Dieser war Träger der römischen Priesterweihe, zwar kein Bischof, aber hierbei konnten sich die Brüder auf eine auch in der zeitgenössischen Scholastik geläufige Argumentation berufen, derzufolge sich der Bischof vom Priester nicht in der Weihe, sondern nur hinsichtlich der Jurisdiktion unterschied. Unmittelbar nach der Weihe sagte sich der Konsekrator schließlich von seiner römischen Weihe los und ließ sich erneut ordinieren - es ging ja zugleich um den Abbruch der Bindung zum Papsttum und um die Einsetzung der neuen Priesterschaft. Oder um es mit einem beliebten Wortbild der Brüder auszudrücken: Man wollte die beschmutzten Tempelgefäße nehmen - und reinigen. - Aber es gab da auch noch die andere Bestätigung - durch einen waldensischen "Ältesten". Gerade hier bleibt leider manches unklar. Verständlicherweise, denn die Organisationsstrukturen der Waldenser waren weitgehend verborgen, und wir müssen eingestehen, daß sie bis heute verborgen bleiben, wenn wir nach dem Stand der Quellen fragen. Also wissen wir nicht genau, was es mit dem waldensischen Episkopat auf sich hatte, und wir wissen auch nicht, in welcher konkreten Gestalt die Brüder mit ihm in Kontakt kamen. Dagegen wissen wir heute, daß sich die Brüder ebenso wie die Waldenser ihrer Zeit im Irrtum befanden, wenn sie meinten, daß dieser Episkopat in einer ununterbrochenen Sukzession seit den Zeiten des Kaisers Konstantin bestanden hätte. - Trotz aller Bemühungen konnten die Brüder die Einwände ihrer Gegner nicht entkräften; für die päpstliche Kurie waren die Brüderpriester nicht rite ordinati. Doch sie hatten getan, was sie konnten.

Sie hatten immerhin so viel getan, daß ihre Nachfolger darauf aufbauen konnten. Selbst jene Nachfolger, die dann beschlossen, aus der sektiererischen Enge, welche die Anfänge der Unität kennzeichnete, hinauszutreten. Die Notwendigkeit einer solchen Entscheidung zeigte sich sehr bald. Denn solange die Unität in dieser Enge beharrte, geriet sie an einen unbeweglichen Rand des Lebens. Ihr fehlte ganz offensichtlich der lange Atem. Es ist allerdings von besonderem Gewicht, daß die damalige innere Debatte über diesen Zustand erst sekundär die praktischen Fragen berührte. In erster Linie handelte es sicht tatsächlich um eine prinzipielle Diskussion. Sie problematisierte die Selbstgerechtigkeit aus den Werken und artikulierte die Notwendigkeit einer Offenheit, zu welcher die Gnade und der Glaube führen.

In der zweiten Generation der Brüder siegte die Richtung, die bereits sehnsüchtig nach dem Evangelium Luthers ausschaute. Um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert rückte an die Spitze der Unität Lukas von Prag - also bezeichnenderweise einer jener Konvertiten, die nunmehr direkt von der Prager Universität zu den Brüdern stießen. Lukas und andere Leute seiner Art begrüßten, daß sie in der Brüderunität eine elitäre Gemeinschaft auf einem relativ ausgeglichenen, moralisch hohen Niveau vorfanden und nicht mit mehr mit den schlimmsten Problemen der Volkskirche zu tun hatten, die ihren Bodensatz weiter mitschleppen mußte. Doch zugleich sorgten diese neuen Brüder dafür, daß die elitärische Gemeinschaft auch die Attribute der wahren Kirche bewahrte. So wurde die Bildung wieder zu Qualifikation; aus den Kirchengebäuden wurde die Geschmacklosigkeit verdrängt, welche die notwendige Folge eines quasi-geistlichen Verzichts auf die Schönheit ist; die Laien sollten sich wieder in der bürgerlichen Gesellschaft engagieren; ebenso veränderte sich das Verhältnis zur Ökumene - den anderen Kirchengemeinschaften wurde ihre Christlichkeit nicht mehr gänzlich abgesprochen.

Zu diesen Veränderungen waren auch die alten Brüder allmählich herangereift. Allerdings nicht alle. Der Kurswechsel war doch zu radikal, als daß er ohne Verluste abgehen konnte. Trotz aller Verhandlungen und Vermittlungsversuche zerfiel die Unität in den 90er Jahren des 15. Jahrhunderts in zwei Teile: in sogenannte Größere und die Mindere Partei. Diese Bezeichnungen dürfen wir nicht bloß quantitativ verstehen, obwohl sie auch die Zahlenverhältnisse wiedergeben. Auf beiden Seiten ging es dabei um ein Programm. Die Mindere Partei entwickelte ein eigenartiges dynamisches Verständnis ihrer Position, indem sie selbst innerhalb der Minderheit wieder von einer Spannung zwischen Mehrheit und Minderheit ausging: die echte Minderheit könne immer nur für eine kurze Zeit ihren Zufluchtsort finden, denn überall gewinne die Lüge irgendwann die Mehrheit. Eine solche Einstellung bedeutet freilich ein offenes Bekenntnis zum Separatismus, eine Art sektiererisches perpetuum mobile: Mindestens einmal pro Generation muß dann eine neue Kirche gegründet werden. Bei einer solchen Argumentation kommt einem unwillkürlich die spätwaldensische Legende in den Sinn, wonach bereits eine Mehrheit der zwölf Apostel, acht von den zwölf, die Wahrheit Christi verraten und die Staatskirche eingeführt hätte. Und tatsächlich, die Streitschrift, die ich hier referiere, beruft sich gerade auf die Waldenser gegen den "Bakkalaurei". Ihr wahrscheinlicher Verfasser, der führende Vertreter der Minderen Partei namens Amos, handelte auf seine Weise völlig konsequent, als er schließlich versuchte, die Tat Gregors nach 33 Jahren zu wiederholen und wieder ein neues Priestertum einzusetzen - diesmal allerdings ohne jede Rücksichten auf die Reden der gelehrten Bakkalaurei, auf irgendwelche apostolische Sukzessionen.

Die Motive, die in den ältesten schriftlichen Dokumenten der Unität noch unter großen Anstrengungen vereinigt wurden, fallen nun definitiv auseinander. Was bei Amos fehlt, finden wir bei der Gegenpartei - wo die Gegenposition nun ebenso klar hervortritt. Dabei nahmen an diesen Auseinandersetzungen mindestens zum Teil immer noch Angehörige der ersten Generation teil, die bereits damals, zur Zeit Gregors, dabei gewesen waren. Einer der vermuteten Mitautoren der ersten Memoranden der Unität, Prokop von Neuhaus hat wahrscheinlich sogar die Apologie aus dem Jahr 1503 verfaßt, die auf den Ursprung der Unität ein neues Licht wirft. Prokop wäre tatsächlich erstklassiger Zeuge auch deshalb, weil eben er die Unität in der Übergangszeit zwischen Gregor und Lukas geleitet hatte. Die Autorschaft an der Schrift wird ihm aufgrund anderer Gesichtspunkte zugeschrieben, aber unsere These würde dadurch vortrefflich bestätigt. Wenn wir mit der Apologie endlich eine systematische Erörterung der lange zurückliegenden Geschehnisse in fachtheologischen Kategorien in die Hand bekommen, muß es sich also nicht notwendig um eine nachträgliche Interpretation oder gar eine Rückprojektion aus späterer Zeit handeln. Wir dürfen diese Gedanken durchaus als die eines Augenzeugen verstehen, der inzwischen zweifelsohne einen gewissen Abstand von den Ereignissen gewonnen hat, der aber auch endlich seine damaligen Ansichten offen aussprechen kann, ohne daß diese von seinem autoritativen Gefährten und Opponenten niedergewalzt werden.

Selbst wenn wir die Autorschaft der Apologie zurückhaltender beurteilen, dürfen wir doch voraussetzen, daß wir es mit einer Überlieferung zu tun haben, die für Gregor und seine Parteigänger bereits zu speziell und uninteressant war, die aber denjenigen im Gedächtnis blieb, denen sie wichtig war. Worum handelt es sich? Beispielsweise um die genauen Einzelheiten einer potentiellen Bischofsweihe bei den Waldenserpriestern (die ja keine Bischöfe waren). Sie sollten, lesen wir da, von einer solchen Weihe normalerweise keinen Gebrauch machen, in Notfällen dagegen schon - was sehr überzeugend wirkt, wenn wir die Bedingungen ihrer Tätigkeit bedenken. Ganz allgemein finden wir in der Apologie ein ziemlich deutliches Bewußtsein des Unterschiedes zwischen dem Ordentlichen und dem Außerordentlichen. Das, was in den Anfängen der Brüdergeschichte geschehen war, sei insofern legitim gewesen, als der Unterschied der bischöflichen Weihe von der priesterlichen keine biblische Begründung hat. Davon abgesehen sei es aber auch ein absoluter Ausnahmefall, vergleichbar etwa mit einer Nottaufe, oder mit Davids Verletzung der Sabbatgesetze, die nur gelten, insoweit sie für den Menschen da sind. Die Brüder hätten sich in einer Notsituation befunden, da sie sonst niemanden hatten, an den sie sich hätten wenden können. Sie drohten also über ihrem Heil zu verzweifeln. Aus dieser Not wurden sie gerettet, wobei sie freilich selbst in der damaligen Situation noch alle Regeln eingehalten hatten, die sie nur irgend einhalten konnten. Jetzt indessen, da eine solche Notsituation nicht mehr vorliegt, könnten sie schon auf all die Regeln achten, die nach dem ökumenischen Konsens zum bene esse ecclesiae, zum Gutsein der Kirche gehören.

Und das Ergebnis? Das unmittelbare Ergebnis dieser Auseinandersetzung bestand darin, daß ein Teil der Amositen, trotz ihrer Neigung zur strengen Auslegung des "schmalen Weges", doch noch vor der Aussicht eines falschen Priestertums, das keinen gemeinsamen Ursprung mit der allgemeinen Christenheit mehr haben wollte, zurückschreckte und die Mitgliedschaft in der "größeren" Unität erneuerte. Die langfristige Folgen lassen sich dann in einer auffällig unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Entwicklung der beiden Gruppierungen beobachten. Die Mindere Partei siechte allmählich dahin, bis sie völlig ausstarb. Auch die Größere Partei blieb in der Bevölkerung eine Minderheit - etwa zwei Prozent - aber sie wurde zur seiner Elite. Lassen wir eine Bewertung des soziologischen Befundes, daß der Bund armer Leute allmählich zu einer Patrizierkirche wurde, beiseite - eine solche Bewertung muß sicherlich nicht eindeutig ausfallen. Unbestritten ist dagegen die gewaltige Bedeutung, die diese Kirche - in kultureller, religiöser Hinsicht, aber auch für die tschechische Sprache und die Politik des Landes gewonnen hat. Sie ist der Hauptgrund, warum die tschechischen Evangelischen der Neuzeit sich zur der Unität als einer mythologisch-prototypischen Größe bekennen. Auch jene, die eigentlich Nachkommen der einstigen evangelischen Mehrheit, d.h. der lutheranisierten Utraquisten und gerade nicht aus der alten Brüderunität hervorgegangen sind. Und auch solche, die sich doch sehr wundern würden, wenn sie über die Ursprünge der Unität dasselbe gehört hätten, was Sie heute gehört haben.

Ich weiß, in der Geschichte verläuft eine solche Wirkung bei weitem nicht so geradlinig, wie ich sie geschildert habe. Doch die vorgetragene Fabel ist ja auch der realen Geschichte entnommen, und ich bin überzeugt, daß ihre Moral wahrhaft tragfähig ist: eine Minderheit zu sein ist eine Chance; sie ermöglicht eine Konzentration, die schöpferische Kräfte freisetzt; allerdings nur dann, wenn die Minderheit der Mehrheit zugewandt bleibt. Sonst ermatten die freigesetzten Kräfte, ja sie werden sogar zerstörerisch. Die Minderheit, die der Mehrheit gegenüber offen ist, kann zu ihrem Sauerteig werden - zum Salz, das dem Ganzen den Geschmack gibt.



Reformation:

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> Rat an König Georg - eine Denkschrift
> Das Archiv des Brüderbischofs Matou¹ Koneèný
> David Zeisberger (1721-1808)
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