Die Deutsche Evangelische Kirche
in Böhmen, Mähren und Schlesien
1919 - 1921
Heidelberg-Wien o.J. (1989), 116 Seiten
(1. Teil)
Copyright by Johannes-Mathesius-Verlag
Heidelberg-Wien, D-6927 Bad
Rappenau
Druck: Ernst Ploetz Ges. m. b. H., 9400 Wolfsberg [3]
Oskar Sakrausky
Die Deutsche Evangelische Kirche
in Böhmen, Mähren und
Schlesien
1919 - 1921 [4]
Trotzdem können und wollen wir diesen Glaubensboden, aus dem wir stammen, nicht vergessen, da er uns ein lebendiges religiöses Erleben mitgab, mit einem besonderen Gemeinschaftsbewußtsein, mit einer Aktivität sondergleichen und einem hochgezüchteten Verantwortungsbewußtsein, wie wir es niemals später im kirchlichen Leben erfahren haben.
Wenn wir uns heute, nach so vielen Jahren fragen, wie dies möglich war, dann finden wir nur die Antwort, wenn wir uns in die Aufgaben und Fragen, in die Nöte und ihre Bewältigungen, in die Siege und Schläge, die jene Frauen und Männer dieser kleinen evangelischen und deutschen Kirche erlebten, hineinvertiefen. Wir werden inne werden, wie sehr der Mensch von Zeit und Umständen geprägt, ja gebrandmarkt wird und dennoch nicht abläßt zu sprechen: ,,Ich lasse Dich nicht - Du segnest mich denn!"
Daß dieses Erbe deutlich und faßbar werden möge, wurden diese Zeilen aus den wenigen verbliebenen Quellen jener Zeit zusammengestellt. Unser damaliger verehrter Herr Kirchenpräsident D. Erich Wehrenfennig selbst hat uns sein Diarium, besser seinen Terminkalender, hinterlassen, an welchem aufgereiht die wesentlichsten Vorkommnisse der ersten Jahre Gestalt bekommen sollen. Vielleicht ist es gelungen auch den Geist dieser Zeit und jener evangelischen Christen deutlich werden zu lassen um uns wieder christliches Leben in doppelter Diaspora vor Augen zu führen.
Unsere ,,Deutsche evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" ist nicht vergessen: Denn ,,Gott ist nicht ungerecht, daß er vergäße euer Werk und die Liebe, die ihr seinem Namen erwiesen habt, indem ihr den Heiligen dientet und noch dient. Wir wünschen aber, daß jeder von euch denselben Eifer beweise, die Hoffnung festzuhalten bis ans Ende." (Hebr. 6,10f.)
Oskar Sakrausky
ev. Bischof i. R.
und Vorsitzender der Johannes-Mathesius-Gesellschaft
[5]
Auf unsere Ansprache antwortete Masaryk: ,,Ich bin ein bewußtes Glied der evangelischen Gemeinde und werde ihre Wünsche aufs Beste erfüllen."[1]
Noch zeigen die Titel der evangelischen Vertreter ihre Herkunft aus der ehemaligen ,,Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Österreich" an, zu der ihre Gemeinden seit dem Toleranzpaten Josef II. vom 13. Oktober 1781 gehört hatten. Zum Teil hatten ihre Väter, Großväter und Urahnen schon als Seelsorger in der österreichischen evangelischen Kirche gedient. So gehörte der Senior Martin Haase (geb. am 15. Juli 1847 in Lemberg als Sohn des Galizisch-Bukowinaer Superintendenten Adolf Haase, Bruder des Bielitzer Superintendenten Theodor Haase) einem alten Pfarrergeschlecht an. Er hatte in Wien und Jena studiert, wurde im Jahr 1871 ordiniert und wurde Pfarrer der Gemeinde Troppau (1890 - 1928), nachdem er vorher erster Vikar in Mährisch-Ostrau und dann Pfarrer im galizischen Dornfeld (1875 - 1890) gewesen war.[2] Der Senior und nachmalige Präsident der ,,Deutschen evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" hatte sogar unter seinen Vorfahren den ersten Pfarrer der Toleranzgemeinde Gosau (Ob. Österreich) Julius Theodor (1784 - 1834), dessen Vater Gabriel Gottlieb Wehrenfennig Legationskanzlist bei dem westfälisch-fränkischen Gesandten im Regensburger Corpus Evangelicorum des Reiches war.[3] Erich Wehrenfennig war am 9. April 1872 in Kleinbressel in Österreichisch-Schlesien geboren, im Jahr 1897 ordiniert und seit 1909 als Pfarrer in der Gemeinde Gablonz tätig. Er war Senior des Iser-Seniorates mit einer Seelenzahl von 17.280 Personen. Dieses umfaßte 10 Pfarrgemeinden, eine Filialgemeinde, 20 Predigtstationen und drei Schulen. Damals dienten 5 Pfarrer seines Namens und seiner Verwandtschaft noch in der Evangelischen Kirche in Österreich.[4] Pfarrer Dr. theol. Albert Gummi (geboren 29. Jänner 1859 in München, ordiniert 1880) war Superintendent der Westlichen Superintendenz in Böhmen mit 3 Senioraten und 34 Pfarrgemeinden. Er war von der Evangelischen Synode A. B. zum Mitglied des Synodalausschusses A. B. berufen worden und hatte in ihm das Amt des stellvertretenden Obmannes inne. Aber auch Ernst Piesch und Lic. theol. Dr. phil. Robert Zilchert aus Prag waren Senioren, so daß diese Delegation der österreichischen evangelischen Restkirche in Böhmen, Mähren und Schlesien durchaus ein repräsentatives Gewicht hatte.[5]
Das Anliegen dieser Abordnung war begreiflich: Der neuproklamierten ,,Tschechoslowakischen Republik" am 28. Oktober 1918 wurde im Friedensvertrag von St. Germain en Laye vom 16.9.1919 jene Gebiete von Böhmen, Mähren und Schlesien zugesprochen, in welchen die Evangelische Kirche in Österreich A. u. H. B. ihre Seelsorge unangesehen der nationalen Zugehörigkeit aufgebaut hatte. In diesem kirchlichen und a-nationalen Verband versuchten sich schon sehr bald nach der Toleranzzeit die tschechischen Protestanten national zu profilieren. Ging es noch in der 2. Generalsynode der evangelischen Kirche A. u. H. B. in Österreich um die Forderung nach einem zwei- und dreisprachigen Oberkirchenrat mit deutscher, tschechischer und polnischer Zunge,[6] so folgte bald die Forderung nach einem eigenen tschechischen Oberkirchenrat in Prag (1871).[7] Obwohl der Wiener Oberkirchenrat diese Forderungen als widerrechtlich zurückwies,[8] konnte er nicht verhindern, daß sich die tschechischen Protestanten am 23. September 1903 zur Konstanzer Unität zusammenschlossen um eine volle Autonomie einer tschechischen Kirche zu erreichen.[9] Für die 500 Jahrfeiern der tschechischen Märtyrer Johann Hus (1915) und Hieronymus (1916) sollten öffentliche [6] Kundgebungen diese Forderung unüberhörbar machen, die aber infolge des Kriegszustandes in Österreich verboten wurden. Nur T. G. Masaryk verkündete am 6. Juli 1915 in Genf den nunmehrigen offenen Widerstand der Tschechen gegen die ,,Vergewaltigung" der slawischen Völker durch die österreichische Monarchie an.[10] So läuft seit den Jahren 1917 und 1918 in den Kirchengemeinden beider Konfessionen eine zielbewußte tschechische Unionsbewegung mit drei Forderungen: ,,Die tschechische evangelische Kirche solle aus der österreichischen Kirche mit ihrer damaligen deutschen Mehrheit ausgegliedert und völlig selbständig werden, sie solle sich durch ein öffentliches Bekenntnis zur tschechischen Reformation nationalisieren und als einheitliche Kirche geordnet werden.[11] Neben L. Stìhule, Souèek, Ferd. Hrejsa und Fr. ®ilka arbeiteten besonders auch der lutherische Vikar Josef Hromádka in Prag auf diese Union hin. Als die deutschen Unterstützungsvereine (Gustav Adolf Verein etc.) von den unterstützten tschechischen Kirchengemeinden eine Loyalitätserklärung für Österreich forderten, löste man das Band mit ihnen und gründete statt des tschechischen Zweiges des Gustav-Adolf-Vereines die ,,Jeronymova Jednota" (Hieronymus-Hilfsverein)."[12]
Schon vor dem Spruch der Friedenskonferenz am 10.9.1919 proklamierte Masaryk am 18. Oktober 1918 in Philadelphia (USA) den selbständigen tschechoslowakischen Staat, worauf 10 Tage später am 28. Oktober 1918 der Umsturz in Prag erfolgte und die èsl. Republik ausgerufen wurde.[13]
Die nationale Welle hatte auch die tschechischen Protestanten ergriffen. ,,Es waren die Tage, da Prag fahnengeschmückt den Einzug seines ersten Präsidenten erwartete, in die die Gründung der tschechischen Kirche fiel. Der 17. Dezember 1918 war ihr Gründungstag, das vom Jubel des tschechischen Volkes erfüllte Prag war der Gründungsort. 121 reformierte und lutherische Gemeinden Böhmens, Mährens und Schlesiens waren durch 216 Abgeordnete vertreten. Die neue Kirche erfaßte eine Zahl von rund 150.000 Seelen. Etwa 124.000 davon waren Reformierte, deswegen wurde der Grundzug der Kirche kalvinistisch.
Die Gründungsversammlung selbst tagte im größten Saale Prags, dem Smetanasaal. Ein Laie, Großgrundbesitzer, leitete sie, und ein Prager Finanzbeamter hielt die geistliche Eröffnungsansprache. Man legte Wert auf Betonung des demokratischen Charakters der neuen Kirche. Ein neungliederiger Synodalausschuß (4 Geistliche und 5 Laien) wurde als vorläufige oberste Behörde eingesetzt... Man einigte sich auf ,Evangelische Brüderkirche' und mußte schließlich den Namen ,Tschechisch-brüderische evangelische Kirche' wählen, denn die Regierung sprach den historischen Namen ,Brüderkirche' der Brüderunität als rechtsgültig zu."[14]
Wer war T. G. Masaryk?
Ich entnehme die folgende Lebensbeschreibung des ersten Präsidenten der èsl. Republik der ,,Landes- und Volkskunde der tschechoslowakischen Republik" von Josef Blau, Verlag Paul Sollors Nachfolger, Reichenberg 1927. Sie stammt noch aus einer Zeit, in der man diesem neuen Staatswesen eine Lebensmöglichkeit im Rahmen des neuen ,,Zwischeneuropas" gab.[16] Es ist die offizielle Darstellung dieser Persönlichkeit, wie sie bei den verschiedenen Feiern anläßlich des Geburtstages des Präsidenten oder zum Jahrestag der Gründung der èsl. Republik der Öffentlichkeit in Erinnerung gerufen wurde. [7]
Thomas Garrigue Masaryk, geb. am 7. März 1850 zu Göding in Mähren. Sein Vater Josef Masaryk, ein Slowake, war Kutscher, später Schaffer auf einem Meierhofe. Seine Mutter Theresia Kropatschek stammte aus Auspitz und war eine Deutsche. Der Vater Masaryks wurde bald auf diesem, bald auf jenem Meierhofe der kaiserlichen Herrschaft Göding beschäftigt. So wechselte die Familie öfter ihren Aufenthalt und Masaryk verlebte seine Jugend in den Orten Göding, Mutienitz, Czejkowitz (1856), Czeitsch (1858), dann wieder in Czejkowitz (1859) und 1862 wieder in Göding. In den Jahren 1861 - 1863 war Masaryk Schüler der deutschen Realschule in Auspitz, da er Lehrer werden wollte. Anfangs 1864 bestimmten ihn aber die Eltern, weil er ein auffallendes Zeichentalent hatte, für die Kunstschlosserei und sie gaben ihn nach Wien in die Lehre. Hier wurde aber die Hoffnung des Jungen, anregend beschäftigt zu werden, schwer enttäuscht. Er hatte hier nur tagaus tagein den Hebel einer Maschine zu drehen, die Eisen für Stiefelabsätze erzeugte. Ein zweiter Arbeiter stand an der Bohrmaschine und machte die Löcher in die Eisen. Der einzige Trost des jungen Masaryk waren seine Bücher. Eines Tages wurden ihm aber auch diese gestohlen. Da hielt er es nimmer länger aus und entlief aus dieser Lehre. Er war damals gerade viezehn Jahre alt. Nun taten ihn seine Eltern zum benachbarten Schmied in die Lehre. Hier in Czeitsch brachte aber ein reiner Zufall die entscheidende Wendung im Leben Masaryks. Als er einmal zwei Eimer Wasser vom Brunnen in die Schmiede trug, erkannte Professor Ludwig aus Auspitz, der gerade durch den Ort kam, in dem Schmiedlehrlinge seinen einstigen Schüler. Er ging sogleich zur Mutter Masaryks und erreichte, daß der Junge aus der Lehre genommen wurde. Er sollte nun doch Lehrer werden. Zuerst kam er als Gehilfe an die Schule in Czejkowitz; mit sechzehn Jahren sollte er dann den pädagogischen Kurs machen. Er unterrichtete an der Czejkowitzer Schule alle Gegenstände. Als er aber lehrte, daß sich die Erde um die Sonne drehe und daß diese stille stehe, erregte er im Dorfe großes Ärgernis und es wurde ihm vorgeworfen, er sei ein Verderber der Jugend. Der Herr Dechant stellte ihm dann diesen der Bibel widersprechenden Unterricht ein. Masaryk war auch Kantor. Er mußte bei den Begräbnissen als Sänger mitwirken. Da machte ihn der Kaplan aufmerksam, daß er die lateinischen Worte schlecht ausspreche. Daraufhin fing Masaryk an, Latein zu lernen und der Kaplan half ihm dabei. Er erkannte die großen Fähigkeiten des Schulgehilfen und riet ihm, das Gymnasium zu besuchen. Mit fünfzehn Jahren trat er in Brünn in die zweite Gymnasialklasse ein. In Brünn brachte er sich als armer Student kümmerlich fort. Er gab Nachhilfestunden und wurde Primus. In der Sexta weigerte er sich, zur Beichte zu gehen. Darum mußte er als Opfer seiner Überzeugung die Anstalt verlassen. Er setzte am akademischen Gymnasium in Wien seine Studien fort. Hier waren die späteren Minister Beck und Klein seine Mitschüler. Auch an der Hochschule in Wien, wo er Philosophie studierte, brachte sich Masaryk durch Stundengeben fort. Dabei lernte er Russisch und er konnte bald in dieser Sprache unterrichten. 1876 machte er das Doktorat. Seine Doktorarbeit war betitelt: ,,Das Wesen der Seele bei Plato". Als Hofmeister eines reichen Studenten kam Masaryk nach Italien und an die Universität Leipzig, wo er ein Jahr verweilte. Hier lernte er Fräulein Charley Garrigue aus Brooklyn in Amerika kennen, die Tochter eines Bankdirektors, die damals zu ihrer Ausbildung in Leipzig weilte. Im Jahre 1878 vermählte er sich mit ihr und legte sich nach amerikanischer Sitte ihren Namen bei. Im Jahre darauf erreichte Masaryk auf Grund seiner Schrift ,,Der Selbstmord als soziale Massenerscheinung" die Stelle eines Privatdozenten der Philosophie an der Wiener Universität. Diese Schrift begründete den Ruf Masaryks auf wissenschaftlichem Gebiete. Als im Jahre 1881 die tschechische Universität in Prag gegründet wurde, wurde Masaryk an sie als Lehrer berufen. In Prag gründete er die wissenschaftliche und kritische Zeitschrift ,,Athenäum". In ihr führte er mit Erfolg den Kampf gegen die gefälschten ,,Handschriften". Das zog ihm viele Anfeindungen zu. Er gründete die Realistenpartei und wurde 1891 ins Abgeordnetenhaus [8] und im Jahre darauf auch in den Landtag gewählt. Als Abgeordneter trat er für die nationale Gleichberechtigung der Deutschen ein. 1907 und 1911 wurde er neuerdings in den Reichsrat gewählt. Masaryk besuchte Amerika in den Jahren 1878 (Hochzeit), 1892 und 1907. Im letzteren Jahre hielt er an der Universität in Chicago Vorträge über die slawischen Nationen. Er war auch mehrmals in Rußland. Hier sammelte er Stoff zu seinem Werke ,,Rußland und Europa. Studien über die geistigen Strömungen in Rußland" (1913). Zweimal besuchte er dabei Tolstoj in Jasna Poljana. Im Laufe seiner politischen Tätigkeit war Masaryk zur Überzeugung gekommen, daß der von der habsburgischen Dynastie im Verein mit Adel, Klerus und Militär sinn- und planlos regierte Völkerstaat Österreich-Ungarn kein sittliches Recht und keine lange Aussicht auf ein Weiterbestehen habe. Zu Beginn des Weltkrieges sah er den Untergang der alten Monarchie voraus. Darum verließ er damals die Heimat und wirkte in der Welt draußen für die Entstehung der Tschechoslowakischen Republik. Seine Sprachkenntnisse, seine weitreichenden Verbindungen und seine ausgedehnten Reisen (Nord-Amerika, England, Frankreich und Rußland) brachten ihm den Erfolg. Er verhandelte mit den Feinden Österreichs über die Gründung des neuen Staates, gewann die amerikanischen Slowaken für seinen Plan und gründete in Rußland eigene tschechische Heeresabteilungen, die ,,Legionen", aus den Scharen der Kriegsgefangenen. Er wurde wegen seiner Verdienste um die Gründung des Staates ausnahmsweise auf Lebensdauer zum Präsidenten der Republik gewählt. Am 21. Dezember 1918 hielt er seinen Einzug in Prag. Masaryk ist der Vater des tschechischen Realismus. Die wissenschaftliche und kritische Richtung Masaryks stand im schroffen Gegensatze zur herrschenden patriotisch-phantastischen Romantik, die sich gerne in die große Vergangenheit und in die Erinnerungen an den Ruhm und die Größe der Vorfahren versenkte und sich mit ihnen brüstete; in die große Vorzeit, die den Tschechen von den unterschobenen ,,Handschriften" vorgegaukelt worden war. Das irregeführte Volk hatte sich zu einem solchen Ruhmestaumel berauscht, daß es sich brüstete, seine Vorfahren hätten längst schon Kuchen gebacken, als sich die Deutschen in ihren Wäldern noch von Eicheln nährten. Gegen solche Überhebung wandte sich nun Masaryk mit aller Schärfe; er hielt seinen Volksgenossen vor, warum sie denn diese Kulturhöhe verloren hätten, daß sie nun jetzt so ganz und gar im Banne der deutschen Kultur und in vielem so weit zurückständen? Die Gegenwart sei wichtiger als die Vergangenheit. Ein fortschrittlich gesinntes Volk müsse sich um seine gegenwärtige Lage, um neue Wege zur künftigen Entwicklung, um die Beseitigung seiner Fehler und Unzulänglichkeiten kümmern. Für diese neue, durch Masaryks Vorträge und Bücher eingeleitete Richtung entstand 1889 der Name ,,Realismus" und Masaryks Anhänger wurden ,,Realisten" genannt. Diese Strömung brachte in die Enge und den Stillstand des Lebens und Denkens jener Zeit einen Reichtum moderner Gedanken über Weltanschauung und soziales Leben; sie erweiterte den geistigen Gesichtskreis, räumte alte Vorurteile hinweg und erfüllte die Bestrebungen seines Volkes mit neuem Inhalt. Masaryks strenge Kritik riß so manche veraltete politische und kulturelle Ansichten nieder, die bisher für viele unantastbare Heiligtümer und Altäre gewesen waren; die Tschechen jener Zeit z.B. sangen mit größter Begeisterung die russische Hymne und beteten förmlich das ,,Väterchen Zar" an, ohne vom russischen Volke und vom russischen Geistesleben auch nur das geringste zu wissen. Masaryk führte da gründlichen Wandel herbei. Und so in vielen anderen, in der Ritualmordfrage, in nationalen, kirchlichen und freiheitlichen Dingen. Den größten Einfluß hatte er auf die studierende Jugend. Trotz aller Verfolgungen und aller Bannflüche, die gegen ihn geschleudert wurden, rangen sich seine befreienden Gedanken dennoch durch und sie wurden bestimmend für die Denkweise und für die Zukunft seines Volkes. Masaryk hatte in Karl Havlíèek (1821 - 1856) seinen Vorläufer gehabt. Dieser war aber in einer finsteren Zeit den Verfolgungen des österreichischen Absolutismus und [9] der Verständnislosigkeit seiner Volksgenossen erlegen. Masaryk konnte sich ja auch in einer freieren Zeit nur mit größter Mühe durchringen. Seine bedeutendsten Werke erschienen in deutscher Sprache: ,,Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus" (1899). Masaryk wandte sich hier gegen die ausschließlich materialistische Auffassung des Sozialismus; es müßten auch die Faktoren Geist und Sittlichkeit berücksichtigt werden. ,,Palackys Idee des böhmischen Volkes" (1899); ,,Ideale der Humanität" (1902); ,,Rußland und Europa" (1913). Aus der letzten Zeit: ,,Das neue Europa" (1918 zuerst in Druck erschienen, in deutscher Übersetzung 1922), ,,Die Weltrevolution" (1925). Masaryk führte sein Volk zur Erlangung der staatlichen Selbständigkeit; dieses Volk wird aber seinen Weg zu den nicht tschechischen Bürgern dieses Staates und damit zu dessen innerem Ausbaue nur dann finden und aus diesem Staate nur dann eine wirksame Heimat aller seiner Bürger machen können, wenn es sein Verhalten diesen gegenüber im Sinne der Lehren des Realisten Masaryk einrichtet. |
Dieser Schilderung des ersten Präsidenten des èsl. Staates sei nun ein Lebensbild des ersten und einzigen Präsidenten der Deutschen evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien gegenübergestellt. Es wurde anläßlich des 90sten Geburtstages von seinem ehemaligen Kirchenleitungsvikar und späteren Oberkirchenrat Pfarrer Hugo Heinrich Piesch (ehemals Prag, 1963) verfaßt:[17]
Kirchenpräsident D. Erich Wehrenfennig Aus seinem Leben und Wirken hat Kirchenpräsident D. Erich Wehrenfennig in den Schriften der ,,Gemeinschaft Evangelischer Sudetendeutscher" lebendig und farbig erzählt. Seine Bedeutung für die Kirche wurde in ,,Um Glaube und Heimat" gewürdigt. Hier soll davon die Rede sein, wie ihn seine Kirchenmitglieder und Pfarrer sahen und sehen. ,,Seelsorger der Seelsorger" haben wir ihn oft genannt. In seltener Liebe und Umsicht nahm er sich jedes Menschen an, der sich ihm anvertraute. Das tut er auch bis heute in seiner weitstreuenden Korrespondenz. Der lutherische Theologe und Kirchenführer übersieht niemals die Sorgen und Nöte des einzelnen Menschen. So hatte er es gelernt, als er 1896 als junger Vikar nach Trautenau kam und der Kurator ihm sagte, er kenne 15 evangelische Familien. Die anderen müsse er sich selbst suchen. Bald hatte er 300 gefunden, 1900 die Kirche gebaut und die Pfarrgemeinde gegründet. Die in der Diaspora so wichtigen Hausbesuche unterließ er aber auch nicht, als er 1909 die 4000 Seelen zählende Gemeinde Gablonz a. N. übernahm, 1911 Senior des ,,Iserseniorates" - des ,,eisernen", wie er es gerne nannte - wurde und 1920 zum Kirchenpräsidenten der ,,Deutschen Evangelischen Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" gewählt wurde. Oft ließ er die wichtigsten Akten liegen, wenn ein Gemeindeglied in seine Kanzlei kam. Die Akten nahm er dann zum Leidwesen seiner Frau zum Mittagstisch und ins Bett mit. Wer immer sich an ihn wendet, findet auch heute noch in ihm den treuen Berater und Freund. Als einer vertriebenen Gablonzerin der Ortspfarrer sagte, der Herr Kirchenpräsident werde sich doch kaum jedes Gemeindegliedes erinnern können, erwiderte sie ihm: ,,Unser Kirchenpräsident hat für jeden kleinen Menschen ein Herz, nicht nur für die Größen der Kirche!" Mancher hat sich gewundert, wie der immer hagere Mann all die Arbeit leisten kann. Er erzählt, daß sie ihn schon in der Schule den ,,dünnen Schneider" schimpften. Als er sich einmal um eine Pfarrstelle in Österreich bewarb, wies man ihn zurück: ,,Wir haben schon eine Pfarrerwitwe in der Gemeinde". Als seine Probepredigt in Gablonz am besten gefallen hatte, wollten die meisten Presbyter ihn nicht wählen, weil er doch bald sterben würde. Der Arzt, zu dem sie ihn schickten, tröstete sie aber, denn er habe eine zähe Gesundheit feststellen können. Aber die allein war es sicher nicht, die ihn alle Arbeit und Sorgen, alle Enttäuschungen und besonders die Nöte um 1945 ertragen ließ. [10] Nicht nur andere hat er auf das Wort hingewiesen: ,,Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig" (2. Kor. 12,9). Da er selbst auch ein schneller und weitsichtiger Arbeiter war, mag es ihm manchmal schwer gefallen sein, langsamere Arbeiter zu ertragen und manches hat er dann lieber selbst gemacht. Aber in seelsorgerlicher Weisheit erkennt er noch heute jeden Mitarbeiter nach der Maßgabe seiner Gaben an und ist jedem dankbar, der auch Aufgaben übernimmt, die ihm nicht liegen. So wurde er der Kirchenführer, der wohl hier und dort eingreifend doch auch wachsen lassen konnte. Wenn dann einer verzweifelte, weil er das Tempo des Vorbildes nicht mit einhalten konnte, sagte er ihm: ,,Nimm Dir den Maurer zum Vorbild: Der legt auch brav einen kleinen Stein über den anderen und eines Tages ist doch das Haus fertig." Fast unmöglich erschien 1919 die Aufgabe, aus den deutschen Gemeinden in der Tschechoslowakischen Republik eine Kirche zu bauen. Da waren die seit der Reformation evangelisch gebliebenen Gemeinden um Asch, die Gemeinden um die Gnadenkirche in Teschen und den ,,Bielitzer Zion" mit ihrer festen Tradition, dazu die ,,Los-von-Rom-Gemeinden" in Böhmen mit den kleinen Toleranzgemeinden. Unter den Pfarrern orthodoxe Lutheraner, Rationalisten, Gemeinschaftler, Nationale, von denen viele aus dem Reich gekommen waren, jeder mit der Agende und dem Gesangbuch seiner Landeskirche. Damals hat er sich zu dieser Kirche in ,,ihrem Sosein" bekannt, bereit, für sie im In- und Ausland einzutreten. So hält er ihr auch heute die Treue - in ihrem Sosein in der Vertreibung. Immer wieder einmal spricht er von ,,seiner" Kirche und er muß bis heute ihr Herr sein. Bis heute aber ist er das im Sinne des Herrenwortes: ,,So jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener, und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht" (Matth. 20,26-27). In Erlangen ist er lutherischer Theologe geworden und immer wieder denkt er dankbar an seine Lehrer. So ist es ihm möglich gewesen, immer stärker in seiner Kirche Luthers Lehre zu verkünden. Seine große Sorge galt oft den Leuten aus der Los-von-Rom-Bewegung. ,,Wir müssen sie hin zum Evangelium führen", hat er oft gesagt. Seine feste konfessionelle Haltung ließ ihn nirgends Grenzmauern errichten. Gerade aus ihren Reihen fand er die treuesten Mitarbeiter. Den wenigen Gemeinden helvetischen Bekenntnisses war er gleicherweise anerkannter Kirchenführer. Wie vielen Katholiken - den verhinderten Protestanten Böhmens - ist er Seelsorger geworden und geblieben! Bis heute will er nicht - wie Paulus (2. Kor. 1, 24) - Herr sein über eines Menschen Glauben, sondern Helfer seiner Freuden. Er hielt wenige Bußpredigten, sondern mahnt bis heute eher: Denn ihr steht im Glauben. Diese Einstellung war es auch, in der er jeden Kirchenkampf von der Kirche fernhielt, weil er der Diaspora nur hätte schaden können. Auf Pfarrerkonferenzen konnten die Meinungen aufeinanderplatzen, nie aber drangen diese Auseinandersetzungen in die Gemeinden und niemals gab es persönliche Feindschaften. So schrieb er in ,,Evangelisches Leben" 1939: ,,Wir sind Kirche, wir waren jedenfalls auf dem Wege, aus Diaspora Kirche zu werden, und jetzt gilt es noch mehr, die Würde, die in diesem Begriffe liegt, zu betonen und Kirche zu bleiben. Wir haben die frohe Botschaft zu verkünden und damit Gemeinde zu bauen und zu erbauen." Oder er schreibt im gleichen Jahrgang im September als Begrüßung des Gustav-Adolf-Vereines, der in Teplitz tagen sollte: ,,Ein Vorwort für die Darstellung dieses Heftes, die als Spiegel der Kirche gemeint ist und sie darzustellen versucht in ihrer ganzen Weite und Freiheit, Einigkeit und Toleranz - wozu der Diasporadienst uns führte und verpflichtet." Diese ,,seine" Kirche sah er aber durchaus in dem Zusammenhang mit der einen heiligen christlichen Kirche und innerhalb unserer Welt. Wenn manchmal behauptet wird, die Deutschen in der Tschechoslowakischen Republik hätten zu wenig mit den Tschechen zusammengearbeitet, so beweist ein Blick in das Tagebuch des Kirchenpräsidenten, daß man ihm diesen Vorwurf nicht machen kann. Von Anfang an stand er mit [11] der Kirche der Böhmischen Brüder in engem Kontakt. In gemeinsamen Sitzungen mit den Synodalrat in Prag wurde die Aufteilung des Vermögens der ehemaligen österreichischen Kirche friedlich geregelt. Das Zusammenstehen der Kirchen ermöglichte ihre freie Stellung im Staat. Obwohl seine Kirche sich nicht entschließen konnte, dem tschechoslowakischen Kirchenbund beizutreten, nahm er an dessen Tagungen teil und hielt Ansprachen und Predigten. Beim Staatspräsidenten T. G. Masaryk war er fünfmal in Audienz und verließ sich auf dessen Bekenntnis zum Evangelium und sein Versprechen, das Leben der Kirchen zu fördern. Eine Einladung zum Tee beim Präsidenten Benesch benutzte er, um auch ihm die Sorgen und Nöte seiner Kirche bekannt zu machen. Mit den Führern der slowakischen evangelischen Kirche A. B. verhandelte er auch weiter, nachdem ihre deutschen Gemeinden sich unserer Kirche nicht hatten anschließen dürfen. Mit dem Ministerium für Schulwesen und Volkskultur erreichte er eine gute Zusammenarbeit. Als kurz nach dem ersten Kriege die Hilfe der Gustav-Adolf-Vereine für die Gemeinden nachließ, verhandelte er nach anfänglichen Schwierigkeiten erfolgreich mit Dr. Morehead, dem Beauftragten des amerikanischen National Lutheran Council und konnte ihn überzeugen, daß die Kirche auf dem Boden des Lutherischen Bekenntnisses steht. Die einsetzende Hilfe überbrückte die erste schwierige Finanzlage. Als das Exekutivkomitee des Lutherischen Weltbundes in Prag tagte (24.10.1927), wurde ihm der Vorsitz anvertraut. Er nahm am 12.10. bis 20.10.1935 an der 3. Lutherischen Weltkonferenz in Paris teil. Aber auch in der damaligen ökumenischen Bewegung machte er die Kirche bekannt. So nahm er teil an den Konferenzen ,,on faith and order" in Prag (12. bis 20. 8. 1920) und in Basel (20. 8.1929). Für den tschechoslowakischen Zweig der Weltallianz wurde ihm der 2. Vorsitz übergeben. An 11 der Sitzungen nahm er teil. Erzbischof Söderblom ermöglichte ihm einen Urlaub in Schweden (11. 4. bis 11. 5. 1921). Immer wieder erzählt er, daß ihm der Erzbischof sagte: ,,Wenn Sie auf Lebenszeit gewählt sind, dann sind Sie auch Bischof." Er nahm teil an den Konferenzen in Kopenhagen (5. bis 9. 8. 1922), Cambridge (1931) und Montreux (11. 8. 1935). Er nahm tätig teil an den Konferenzen ,,Freundschaftsarbeit durch die Kirchen" in Prag, aber auch in Stockholm (1925). Daß eine engere Zusammenarbeit des Süd-Ostens notwendig sei, erkannte er bald und nicht zuletzt auf seine Anregung hin fanden die Tagungen in Wien und Agram (1933 - 1939) statt. Die Tagung des Protestantischen Weltverbandes in Podjebrad (21. bis 23. 9. 1936) half er gemeinsam mit den anderen Kirchen der Tschechoslowakischen Republik vorbereiten und durchführen. Für die Anstalten der Liebestätigkeit war ihm wichtig die Verbindung mit dem ,,Internationalen Verband für Innere Mission und Diakonie" und dessen Tagung in Prag (24. bis 25. 9. 1936). Als ihm der frühere Superintendent Dr. Albert Gummi das Amtskreuz übergab, sagte dieser: ,,Wer die Kirche leitet, muß das Kreuz tragen". Er trug es in aller Treue, bis es ihm 1945 abgenommen wurde und er schweres Leid im Gefängnis ertragen mußte, das schwerste - für wenige Stunden entlassen - am Grabe seiner Gattin. 1955 hat ihm die Kirche der Böhmischen Brüder das Amtskreuz zurückgegeben, wohl doch in Anerkennung einstiger brüderlicher Zusammenarbeit. Am 5. 6. 1921 wurde ihm anläßlich der 100-Jahr-Feier der theologischen Fakultät in Wien von dieser die Würde eines Doktor der Theologie ehrenhalber verliehen, aber er wußte, daß das keine persönliche Ehrung war, er nahm es als die Hilfe für seine verantwortungsvolle Arbeit. Im Jahre 1959 erhielt er das Großkreuz zum Bundesverdienstkreuz in Anerkennung seiner Arbeit. Mancher hat ihn vielleicht um solche Ehren beneidet. Er selbst sagte bei allen solchen Gelegenheiten immer, daß solche Zeichen ihm bedeuten: Noch größere Verantwortung. Kirchenpräsident D. Erich Wehrenfennig ist kein Schriftsteller. Niemand aber wird die Abendmahlsansprachen bei den Osterkonferenzen vergessen. Wer unter seiner [12] Kanzel saß, nahm manches als dauernde Wegleitung in sein Leben mit. Unvergessen bleibt das Pfarrertreffen im Jahre 1947 in Ansbach, als alle vertriebenen Pfarrer seiner Kirche sich wieder wie einst in Teplitz um ihn versammelten. Dankbar sind wir für seine Hilfen und Anregungen für das Hilfskomitee, die Gemeinschaft evangelischer Sudetendeutscher unddie Johannes-Mathesius-Gesellschaft. Wir können nichts aus seinen Werken zitieren, wollen aber diesen Dank schließen mit den Worten, die er bei der Kirchlichen Woche in Karlsbad 1937 gesprochen hat, weil sie ebenso für heute Geltung haben: ,,Und wenn wir hier auf verlorenem Posten stehen sollten und unsere Kirche mit dem Schicksal der Sudetendeutschen keine besondere Zukunft hätte, vielleicht einen Rückschlag erleben müßte, nun, dann wird auch bei uns (nach den Worten eines Vortragenden dieser Woche), wenn wir treu zu Gott stehen und zu seinem Christus als Kreuzträger - jene urchristliche Eschatalogie lebendig werden, die durch menschliche Zusammenbrüche hindurch Gottes Reich kommen sieht in Kraft und Herrlichkeit. Dann gilt es ausharren auf schwerem Posten, eine Gemeinschaft der Gläubigen, weil auch solche Diaspora eine Aussaat ist auf den Erntetag Gottes. Nicht auf den Erfolg kommt es schließlich an vor Gott, sondern auf die Treue. ,Die Treue steht zuerst, zuletzt im Himmel und auf Erden. Wer ganz die Seele drein gesetzt, dem muß die Krone werden. Amen.'" |
Beide Männer, wenn man sie nur als Zeitgenossen vergleichen wollte, huldigten einem Realismus. War der des Staatsoberhauptes ein politisch-humanistischer, so war der des evangelischen Kirchenführers ein christlicher Realismus. Der eine vertraute der menschlichen Idee eines Nationalismus, die letztlich in eine Ideologie umschlagen und so zur Katastrophe der tschechischen Nation führen mußte. Der andere wußte um die Fehlsamkeit und Sündhaftigkeit des Menschen, die alle noch so hoch angelegten Pläne zu Nichte machten und er deshalb der Vergebung Gottes in Jesus Christus bedarf.
Wie sieht nun der Umfang der Aufgaben aus, welche beiden Männern - jedem in seiner Weise - aufgetragen waren? Der Staatsmann muß einen Staat einrichten, in dem die Tschechen, die sich selbst zum Staatsvolk ernannten, nicht einmal die Mehrheit hatten und neben dem 23% Deutsche, 16% Slowaken und neben ihnen noch rund 12% 5 andere Völkerschaften lebten.[18] So sieht es auch mit den verschiedenen Religionsbekenntnissen in diesem neuen Staat aus: Nach der Volkszählung 1921 gab es elf verschiedene Religionsbekenntnisse, wobei die 720.000 Konfessionslosen nicht mitgerechnet sind. Dazu kam das immer deutlicher werdende Ziel der tschechischen Machthaber, wie es am 28. Oktober 1927 Kramáø, der ehemalige erste Min.-Präs., ausdrückte: ,,Die Tschechoslowakei ist unser Staat und ein Nationalstaat."[19] Aber vorerst ging es darum diesem neuen Staat eine Verfassung zu geben, die allen diesen Problemen standhält. Man machte es sich recht einfach indem man am 29. Februar 1920 die vom Präsidenten der Republik genehmigten und bereits beschlossenen Verfassungsurkunden, das Sprachengesetz, Schulgesetz und Bodenreformgesetz erläßt.[20] Erst im darauffolgenden April tritt das erste èsl. Parlament zusammen, welches trotz Wahlfälschungen 72 Deutsche, 175 Tschechen, 35 Slowaken und Ungarn etc. als Parlamentarier aufweist. Das Parlament war vor vollendete Tatsachen gestellt.[21]
Auch für den Kirchenmann war die Notwendigkeit gegeben, aus den 66 Pfarrgemeinden mit rd. 120.000 Seelen ein kirchliches Gebäude zu errichten, welches der Verkündigung der frohen Botschaft samt der rechten Verwaltung der Sakramente, der Seelsorge, dem Lehrauftrag an den Getauften und dem Dienstauftrag an Kirche und Welt (Diakonie) entsprach[22] Der Gablonzer Senior Wehrenfennig war schnell: Er verzeichnet in sein Tagebuch unter dem 26. Oktober 1919 lakonisch:
,,gründender Kirchentag in Teplitz-Schönau."
Er muß schnell sein, schneller als die tschechischen Staatsorgane, damit die deutschen Evangelischen ihr Recht auf die Muttersprache, Deutsch als amtsinterne Sprache, [13] auf ein eigenes Schulwesen und auf die Staatsunterstützung etc. fordern können und dieses nach Bewilligung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.
So wird jedenfalls einmal die ,,Deutsche evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" gegründet. Schließlich mußten die deutschsprachigen Gemeinden, sei es, daß sie Übertrittsgemeinden aus der ,,Los-von-Rom-Bewegung" waren oder daß sie von der Toleranzzeit her eine pietistische Prägung aufwiesen, sich zu einem gemeinsamen Kirchengebäude entscheiden, weil sie auf Grund ihres Deutschtums keinen Anschluß an die tschechischen Protestanten finden konnten.
Nach Vorberatungen innerhalb der einzelnen erweiterten Senioratsausschüsse der deutschen evangelischen Gemeinden von Böhmen, Mähren und Schlesien, sowie der Sup-Ausschüsse von Mähren-Schlesien und Asch traten am 1. Oktober in Teplitz die Abgeordneten dieser Ausschüsse zu einer gemeinsamen Beratung zusammen und beschlossen, auf den 26. Oktober einen deutschen evangelischen Kirchentag für die tschechisch-slowakische Republik einzuberufen. Alle deutschen evangelischen Gemeinden, auch Filialgemeinden und Predigtstationen mit über 500 Seelen erhalten das Recht zur Beschickung. Die Teilnahme von Frauen-Vertretern ist zulässig. Die Tagesordnung ist folgende:
1. Eröffnung durch den Altersvorsitzenden.
2. Wahl der Versammlungsleitung.
3. Wahl des Beglaubigungsausschusses für die Vollmachten.
4. Wahl der Prüfer für die Verhandlungsschrift.
5. Auseinandersetzung mit der evangel. Kirche Österreichs und Gründung einer neuen deutschen evangel. Kirche, Festlegung der grundlegenden Bestimmung für dieselbe (Berichterstatter Pfarrer Hickmann - Dux).
6. Wahl eines Kirchenausschusses: a) Zusammensetzung, Rechte, Pflichten; b) Wahl der Mitglieder. (Berichterstatter Senior Piesch - Komotau).
7. Wahl eines Verfassungsausschusses, seine Rechte und Pflichten. (Berichterstatter Senior Piesch - Komotau).
8. Wahl eines Geldwirtschafts-Ausschusses, seine Rechte und Pflichten (Berichterstatter Senior Piesch - Komotau).
9. Wahlordnung für den verfassunggebenden Kirchentag (Berichterstatter Dr. Stein - Asch).
10. Richtlinien für die zu gebende Verfassung (Berichterstatter Dr. von Stein - Trautenau).
11. Entschließungen und Kundgebungen für die Öffentlichkeit.
Der deutsche evangel. Kirchentag wird mit einem Festgottesdienst in der Christuskirche, vorm. 1/2 9 Uhr, eingeleitet, bei welchem Senior Wehrenfennig (Gablonz) die Predigt halten wird.[23] Um Fragen des Bekenntnisstandes, des Namens der Kirche, ihrer Aufgliederung sowie um die Befugnisse der kirchlichen Organe wurde hart gerungen. Es zeigte sich aber, daß in gewisser Abwandlung die ehemalige österreichische Kirchenordnung den verbliebenen doppelten Diasporaverhältnissen durchaus entsprochen hatte, so daß man unter Anpassung an das neue Miteinander mit Kirchen protestantischer Bekenntnisse aber verschiedener Nationalität und unter Anpassung an die Verhältnisse eines demokratischen Staates, wie ihn die Tschechoslowakei darstellte, bei der alten österreichischen Ordnung hätte bleiben können, wenn nicht der nationale Gegensatz zwischen Tschechen und Deutschen so abgrundtief gewesen wäre.[24]
Es war ja auch zu fragen, ob man, wie es in der alten österreichischen Kirche der Fall war, mit dem Namen der Kirche auch ihren Bekenntnisstand mit A. u. H. B. oder nur mit A. B. hätte verbinden sollen. Gab es doch in der nunmehr neuen Kirche nur wenige Gemeindeglieder reformierten Bekenntnisses im Jahre 1924: 275 H. B. und nur [14] eine kleine reformierte Gemeinde namens Tschenkowitz bei Hohenstadt in Mahren. Auch die seit alters national getrennte Prager deutsche Gemeinde[25] nannte sich ,,Vereinigte deutsche evangelische Gemeinde A. u. H. B. in Prag" und gehörte damit in der alten österr. Kirchenverfassung zu den vorgesehenen ,,A. u. H. B." Gemeinden mit ihren bestimmten Rechten.[26] So fügte man sich dem Zug der Zeit, strebte nach möglichst wenig Bekenntnisbewußtsein und einigte sich auf die nationale Bezeichnung ,,Deutsche ...", wobei man sich an den deutschen Reformator Dr. Martin Luther hielt ohne das Augsburger Bekenntnis hervorzuheben. Es zeigte sich ja auch später, daß gegenüber der husitischen und Komensky-Tradition in der neuen deutschen Kirche eine Luther-Renaissance entstand.[27]
Dieser Geist ist besonders in der von Pfr. Lic. theol. Otto Waitkat herausgegebenen Monatsschrift ,,Deutscher Glaube" zu spüren. Waitkat, der auf seine persönlich-fromme Art, keinesfalls aber kirchenpolitisch, wie es später die ,,Deutschen Christen" vertraten, Deutschtum und christlichen-protestantischen Glauben verbinden wollte um einen zeitgemäßen Zugang zu den christlichen Glaubenswahrheiten für die vielen Übertrittler aus der römisch-katholischen Kirche oder aus der tatsächlichen Bekenntnislosigkeit zu eröffnen, hatte schon in der alten österreichischen Kirche den ,,Evangelischen Gemeindeboten" nach Karl Schiefermair (Rottenmann) und Ludwig Mahnen (Marburg an der Dräu) herausgegeben.[28] Er war es auch, der in Habstein bei Hirschberg in Böhmen den ,,Sonnenhof" gründete, eine Anstalt für schwererziehbare Burschen, und diese mit größten persönlichen Opfern während der ganzen Kriegszeit (1914 - 1918) erhalten hatte.
Aus den Blättern des mit grünem Einband versehenen ,,Deutschen Glauben" weht ein besonderer Geist entgegen: ,,Ablehnung des ,Nur-Jüdischen' (gemeint war der gesetzlich-alttestamentliche pharisäische Geist) in kirchlicher Lehre und Verkündigung, statt dessen Treue zu deutscher Art und Liebe zur deutschen Vergangenheit. Wenn auch nicht gesagt werden kann, daß dies der Geist der Kirche schlechthin sei - der ließe sich auch heute noch nicht so ohne weiters auf einen Nenner bringen - so ist es doch der Geist, der viele Gemeinden und viele Gemeindeglieder damals bewegte; und wer vom schweren Kampf ums deutsche Recht in diesem Lande weiß, den wundert diese Tatsache nicht... Und Luther, so schrieb man, ist der Held dieser Frömmigkeit, Luther, ,,der fromm war, weil er deutsch war".[29]
Gewiß wird man nach der unsinnigen Übersteigerung von Rasse und deutschem Volkstum durch den Nationalsozialismus solche ,,kirchliche" Aussagen kaum mehr verstehen können, geschweige denn rechtfertigen wollen. Aber sie sind hier genannt, um die alltägliche Hitze und Angespanntheit des Volkstumskampfes gegenüber der tschechischen Vernichtungspolitik allen Deutschtums in der Tschechoslowakei zu erklären. Auch die ,,Ablehnung des Nur-Jüdischen" im Sinne des Antisemitismus nach der Art des ,,Stürmers" liegt hier nicht vor. War doch lange Zeit der Obmann des ,,Hauptvereines für Liebestätigkeit und Pflege des evangelischen Lebens", zu dem auch der ,,Sonnenhof" gehörte, der evangelische Prager Volljude Dr. med. Ernst Veit, ein edler, kluger und frommer Christ.[30] Die ,,Ablehnung" betraf die pharisäische, selbstgerechte und dabei auf eigenen Nutzen berechnende Art, die man unterschiedslos bei allen Völkern und Rassen antrifft, aber bei den Verfolgern Jesu im Neuen Testament in exemplarischer Weise.
Und doch sind solche Ideen, die geeignet sind, sich nach Aufnahme von triebhaften Impulsen zu verändern und zu verallgemeinern und damit eine menschenverachtende Tendenz anzunehmen, aufs Höchste verhängnisvoll und gefährlich. Die Pression des Volkstumskampfes mag vieles erklären aber kann es nicht entschuldigen. So mag festgestellt werden, daß der ,,Deutsche Glaube" vielerorts gern gelesen und auch deshalb mitunter den Veröffentlichungen der Kirchenleitung und des ,,Evangelischen Bundes" diente. Mit dem Tode des Herausgebers Waitkat am 1. Mai 1930 in Joachimsthal wurde er dann auch eingestellt.[31] [15]
26. Oktober 1919 in Teplitz-Schönau
Der die Kirche ,,gründende" Kirchentag fand am 25. Oktober 1919 in der Christuskirche in Turn bei Teplitz-Schönau statt. Senior Erich Wehrenfennig leitete den Kirchentag mit einer Predigt in einem Festgottesdienst ein. In Anwesenheit der Vertreter der 55 Pfarrgemeinden, 30 Zweiggemeinden und etwa 100 Predigtstationen wurde die Beratung durch den 56jährigen Kirchenanwalt und späteren Oberkirchenrat Marschner aus Falkenau mit den Worten eröffnet: ,,Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe sind wir zusammengekommen um unser Haus zu bauen." Als vorläufige Kirchenleitung wurde ein Dreierkollegium gewählt, zwei Geistliche und Kirchenanwalt Josef Marschner. Die beiden Geistlichen waren Senior Erich Wehrenfennig und Superintendent Dr. Albert Gummi. Senior Wehrenfennig schreibt über diesen Tag:
,,Im Jahre 1919 entstand die tschechoslowakische Republik. Da waren wir auf
einmal von Wien abgetrennt und ratlos. Ich hatte in Trautenau von der Pike auf
gedient, aus kleinsten Anfängen eine Pfarrgemeinde gegründet, den Bau
der Kirche durchgeführt. Und ich mußte zuletzt, weil der Baumeister
auf Urlaub ging die Endarbeiten beaufsichtigen ..." Aber nun brachte das Jahr 1919 eine andere Aufbauarbeit. Es mußte eine Kirche für 130.000 Seelen in einem eben gegründeten Staat gebaut werden - man kann aber eine Kirche nicht bauen, sie wird gegeben. Das lehrt uns Pfingsten. Alles menschliche, allzumenschliche Kirchentum, das ohne Gottes Geist sich breit machen will, ist damit gerichtet. - Ich denke dabei an die tschechoslowakische Nationalkirche und an die Deutschen Christen im Reich. Wie wurde nun unsere Kirche gebaut? Die Ascher Superintendenz, die westböhmische Superintendenz und das Mährische Seniorat waren von Wien abgetrennt und lagen als Wrack, als führerloses Schiff, auf wogender See. Wir griffen zur Selbsthilfe. Ich berief als Senior eine Sitzung der Senioren nach Reichenberg ein. Es mußte gehandelt werden, und so überlegten wir uns vorbereitende Schritte zu einem gründenden Kirchentag. Er wurde dann am 25.10.1919 nach Turn einberufen. Der Vorsitzende eröffnete die Tagung mit den Worten: ,,Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Trieb, sind wir zusammengekommen um unser Haus zu bauen." Senior Hickmann aus Dux und Dr. von Stein aus Trautenau hatten Grundzüge für eine Verfassung als einen ersten Versuch vorbereitet. Als ein Senior sagte, was nützt es uns, wenn wir hier Beschlüsse fassen, wir wissen nicht, was Prag dazu sagt, da stand ich auf und sagte: ,,Wir müssen doch die Grundlagen für unsere Kirche legen und wenn uns später Einwände gemacht werden, so können wir verhandeln und haben doch nach unseren Wünschen einen Anfang gemacht." Nun wurde also weiter getagt und am Schlusse ein Dreierausschuß gewählt als die vorläufige Kirchenleitung - Wehrenfennig, Marschner als weltliches Mitglied und Superintendent Gummi. Beim Abendessen ließ ich die Brüder fragen, wie das Triumvirat gemeint sei, wer an der Spitze stehen solle? Die Antwort war, die Gewählten gelten in der Reihe, wie sie gewählt wurden. Wir setzten uns zusammen, und ich sagte, dann soll wohl bei mir der Einlauf der Akten sein, und ich gebe sie dann weiter, und Herr Superintendent macht die Schlußbearbeitung und läßt sie ausgehen. Superintendent Gummi antwortete: ,,Wo der Einlauf ist da ist auch der Auslauf."[32] |
Wehrenfennig war es ja auch, der sich schon im Jahre 1918 Gedanken über das Schicksal der Deutschen evangelischen Gemeinden in Böhmen, Mähren, Schlesien machte. Kommt ein Zusammenschluß mit Österreich zu einem größeren Deutschösterreich, oder werden die deutschen evangelischen Gemeinden an den West- und Nordgrenzen Böhmens mit den dahinter liegenden deutschen Kirchen zusammengeschlossen? Wie wird der von den Tschechen so heißersehnte eigene Nationalstaat aussehen? Seine Gedanken schrieb er in der ersten Nummer des ,,Deutschen Glaubens", dem früheren ,,Evangelischen Gemeindeboten für Österreich" im Januar 1919 nieder: [16]
Und was wird aus unserer Kirche? Da ich daran gehe, diese Frage zu beantworten, fällt mir das Lied meines Großvaters ein, dessen letzter Vers den frommen Wunsch ausspricht:
Herr! solang' am Himmelsbogen deine Sonne segnend steht, Soll dies Lied nun auch verklungen und vergessen bleiben? Gewiß, seine vier Strophen werden in keiner Gemeinde mehr gesungen werden, aber der fromme Wunsch für Volk und Land, der darin sich regt, er gilt weiter für Deutschösterreichs evangelisches Volk, für unsere evangelische Kirche. Unsere Väter haben in großer Treue und Liebe den Grund gelegt zur evangelischen Kirche in Österreich. Der bricht nicht in Sturm und Drang. Durch die politische Umwälzung, der das alte Österreich zum Opfer fiel, sind auch die evangelischen Kirchen beider Bekenntnisse um ihren Zusammenhang gebracht. Die reformierte Kirche ist ins neue Jahr nur noch als ein Rest der alten hinübergegangen. Die drei Gemeinden zu Wien, Bregenz und Feldkirch auf deutschösterreichischem Boden sind ihr verblieben. Alle Gemeinden augsburgischen und helvetischen Bekenntnisses im tschecho-slowakischen Staat hielten am 17. und 18. Dezember 1918 zu Prag eine Synode ab und gaben sich den Namen ,,Kirche der böhmischen Brüder". Ihr liegt das Bekenntnis der böhmischen Konfession von 1575 und das des Amos Comenius von 1662 zugrunde. Diese Änderung der Verfassung wurde der republikanischen Regierung in Prag zur Bestätigung vorgelegt. Es ist möglich, daß die Evangelischen tschechischer Zunge durch diese Einstellung größere Bedeutung im Volksleben gewinnen. Unsere altösterreichische evangelische Kirche ist damit kleiner, aber auch zur deutschen Kirche geworden. Leider ist es auch schon zu einem Verluste deutscher Gemeinden gekommen. Die ostschlesischen Gemeinden, in dem der Kohlenschätze wegen strittigen Gebiet gelegen, seit der Reformation ein Hort des Protestantismus, sind trotz des Einspruches des mährisch-schlesischen Superintendent-Stellvertreters Dr. A. Schmidt der polnischen evangelischen Kirche einverleibt worden. Daß die alte Teschener Gnadenkirche und die Bielitzer Lehrerbildungsanstalt den Zusammenhang mit uns verlieren könnten, ist uns ein schwer vollziehbarer Gedanke. In Böhmen sind die Gemeinden Prag (deutsch), Pilsen und Budweis derzeit vereinsamt. Wir sind aber der Zuversicht, daß ihnen der Anschluß an uns nicht verloren geht. Greift doch auch seit Jahrhunderten das Fürstbistum von Breslau auf die Katholiken von Österreichisch-Schlesien über, wie auch der preußische Oberkirchenrat zahlreiche Gemeinden des Auslandes verwaltet. Die kommende Synode, die früher als im Herbste, da sie fällig wird, tagen dürfte, wird einen Abwicklungsausschuß einzusetzen haben, der alles klärt und das Neue in die Wege leitet. Die Aufgaben sind groß. Der Druck der herrschenden Kirche hat nachgelassen. Wir können freier unsere Kräfte regen. Jetzt muß jede Gemeinde sich auf ihren Wert und ihre Kraft besinnen und durch Verjüngung oder Auffüllung ihrer Vertretungskörper, durch Indienststellung der Besten, durch Heranziehung der in Krieg und Not gereiften Persönlichkeiten sich erneuern. Die leichte Art, in der man jetzt für alltägliche Bedürfnisse den drei- bis zehnfachen Betrag ausgibt, ja ausgeben muß - soll wenigstens annähernd auf die kirchlichen Opfer angewendet werden. Die Landgemeinden sollen doch nicht ewig bei ihrem sonntäglichen Kreuzer für den Klingelbeutel bleiben und die Stadtgemeinden das Kirchenopfer nicht so nebensächlich [17] behandeln. Die Gemeindebeiträge müssen den erhöhten Einkommen endlich überall angepaßt werden. Dann lebt unsere Kirche ohne Staatshilfe, von ihren Gliedern allein getragen, frei und selbstbewußt. Zu den Beratungen und kirchlichen Versammlungen entsende man als weltliche Vertreter nur Männer von Herz und Geist, denn unsere Kirche muß eine Männerkirche werden, darin Mannesglaube, Mannesfreimut und Manneswert zu spüren ist. Unsere Gemeinden haben eine wahre Feuerprobe, die Notzeit des Krieges, überstanden. Nun segne Gott ihren Weg ins Land der Zukunft. Der treue Gott wird allem aufrichtigen Wollen das Vollbringen schenken. Sen. Wehrenfennig, Gablonz |
Schon in dieser Vorschau hat Wehrenfennig den klaren Blick für die Notwendigkeiten der Zukunft: Die Synode oder wie sie dann genannt wurde, der ,,Kirchentag", der Abwicklungsausschuß, der sich beim Gründungs-Kirchentag als vorläufige dreigliedrige Kirchenleitung nebst dem Kirchenausschuß ergab, die Beschaffung von Geldmitteln und wagemutige, glaubensstarke weltliche Vertreter, die sich an den Kirchenneubau in Böhmen, Mähren und Schlesien heranwagten.
Noch hatten sich die im Ascher Ländchen in Westböhmen gelegenen großen Gemeinden bei diesem Kirchentag nicht anschlußwillig gezeigt, so daß die beiden ersten Kirchentage, der gründende und der verfassungsgebende Kirchentag von den drei Ascher Gemeinden Asch, Neuberg und Roßbach nicht besucht wurden. Sie hofften wohl, da ihr damaliger Pfarrer Lic. theol. Johann Georg Held aus Bayern stammte, sich an die bayrische Landeskirche anschließen zu können.[33]
In der Überzeugung nach dem Ergebnis des Kirchtages das Fundament einer selbständigen, deutschen Kirche im Rahmen der neuen Republik gelegt zu haben, nahm Senior Wehrenfennig sofort zu den tschechischen Brüdern, mit denen die deutschen Protestanten soviele Jahre in einer Kirche verbunden waren, Kontakt auf. Wehrenfennig notiert in seinem Tagebuch:
Von dem ,,gründenden" Kirchentag weg mußte Senior Wehrenfennig nach Eferding zu seiner schwer erkrankten Mutter fahren.[34] Selbstverständlich hatte er kein Auto zur Verfügung, sondern mußte umständlich über Prag und Linz und dann mit der Lokalbahn nach Eferding fahren, wo er seine Mutter sterbend antraf. Auguste Wehrenfennig, geborene Kral war im 73sten Lebensjahr, als sie am 4. 11. 1919 starb. Senior Wehrenfennig muß wohl gleich wieder zurückgefahren sein, da er angibt am 1. November in Prag bei der tschechischen Brüderkirche und wiederum am 7. November:
abermals in Prag bei Minister Habermann
gewesen zu sein. Er wird dazwischen wohl beim Begräbnis seiner Mutter gewesen sein. Welche Strapazen damals eine solche Reise - noch dazu über eine Grenze, bedeutete, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Am Grenzort Oberhaid bzw. Summerau zwischen Budweis und Linz gab es oft stundenlange Aufenthalte, die sich ein normaler Reisender nicht erklären konnte. Dazu kamen die meist schlecht oder gar nicht geheizten Züge, das besonders Deutschen gegenüber unfreundliche Personal, der Visumzwang und die genaue Zollkontrolle mit häufiger Leibesvisitation. Wehrenfennig schreibt in seinem Tagebuch nichts davon und in seinem Bericht: ,,Die evangelische Kirche im Sudetenland" (1955) nur lakonisch: ,,Es gab unendlich viele Reisen nach Prag und Verhandlungen mit den inländischen kirchlichen und weltlichen Behörden. Aber wir kamen doch vorwärts."[35] Es ist unglaublich wie dieser zart gebaute hochgewachsene Mann alle diese Strapazen aushalten konnte. In einer Presbytersitzung, die während [18] seiner Kandidatenzeit über seine Wahl auf die Pfarrstelle in Wiener Neustadt hätte entscheiden sollen, äußerte der dortige Oberlehrer damals angesichts des schmalen Aussehens des Kandidaten Wehrenfennig, nachdem der Vorgänger frühe mit dem Tode abgegangen war und eine verhältnismäßig junge Witwe zurückgelassen hatte, die nach damaligen Recht die Gemeinde zu erhalten hatte: ,,Wollt ihr noch eine zweite Witwe erhalten?" ,,Er hielt mich nicht für gesund genug und hatte meinen Großvater gekannt, der früh gestorben war. Ich wurde nicht gewählt..." schreibt Wehrenfennig über diesen Vorfall.[36] Aber Gott hatte sich diesen zähen und ihm ganz ergebenen Diener für seinen Dienst erwählt.
Als Wehrenfennig in den Novembertagen des Jahres 1919 die Vertreter der tschechischen Brüderkirche besuchte, traf er diese in dem damals schon stehenden Husùv dùm, dem Hus-Haus in der Jungmannstraße in Prag (II.) I. Es war auf Grund von Sammlungen tschechisch-evangelischer Vereine schon vor 1914 entstanden, war dann der Mittelpunkt des Prager tschechischen-evangelischen Lebens geworden und beherbergte auch den kirchlichen Verlag ,,Kalich", der sich heute noch dort befindet.[37]
Dr. Ferdinand Hrejsa, später auch Professor, war seit der von den tschechischen Gemeinden beider Konfessionen nach Prag einberufenen Generalsynode (17. und 18. Dezember 1918) Mitglied des ersten Synodalausschusses der auf dieser Generalsynode gegründeten konfessionell-vereinigten ,,Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder". Mit ihm waren Kamil Nagy aus Wanowitz im östlichen Seniorat der Mährischen Superintendenz H. B. (geb. 1873), Josef B. Souèek (1864 - 1938), der spätere Synodalsenior der Kirche und die Presbyter Anton Bohaè, Ferdinand Kavka, Josef Král, Hermann Rüdiger und Antonín Zahálka gewählt worden.[38] Hrejsa ist es zu verdanken, daß neben einer überquellenden nationalen Romantik und Verehrung für die husitische Reformation die biblische Grundlinie der Gemeinden, neben einer präzisen Verwaltung wie auch die wirtschaftliche Sicherung und der presbyteriale Aufbau im Auge behalten wurden. ,,Mit Dankbarkeit erinnern wir uns namentlich des ersten nüchternen Lotsen des von einer gewissermaßen überschwenglichen Begeisterung geblendeten evangelischen Schiffchens der böhmischen Brüder" schreibt Ludìk Bro¾ in seiner Abhandlung ,,Von der Toleranz bis heute". Schon sehr bald wurde diese ebenfalls kleine Kirche von rd. 150.000 - 160.000 Seelen von einer Übertrittswelle geradezu überschwemmt. In den ersten 5 Jahren ihres Bestehens verzeichnete Professor Hrejsa einen Zuwachs von 73.697 Seelen, das waren fast 50% ihres Anfangsbestandes. In 10 Jahren, von 1918 bis 1928 waren es bereits 253.054 Seelen geworden, die seelsorgerlich und auch verwaltungsmäßig eingeordnet werden mußten. Man machte sich keine Illusionen nur überzeugte biblisch fundierte Christen hinzugewonnen zu haben, aber ,,es geschah, was geschehen konnte" wie Prof. F. Zilka sagte.[39] Deutlicher beschreibt der schon vorgenannte L. Bro¾ die Folgen eines solchen Massenzuwachses:
,,Nach dem Abflauen des Nachkriegsoptimismus erwiesen sich die Konsequenzen der Übertrittsbewegung als ein beschwerliches Problem. Das Bindemittel vieler neuer evangelischer Gruppen und auch ganzer neu aufgebauter Gemeinden war nichts anderes als die Negation Roms, meistenteil aber nicht aus religiösen, sondern lediglich nationalen Gründen. Es kamen unerfüllbare innermissionarische Aufgaben ans Tageslicht... Auch das unierte protestantische Volk war nicht überall zufrieden, besonders seitens der früheren Lutheraner wurde manche Klage laut, obwohl es den Gemeinden und auch den Gemeindemitgliedern überlassen blieb, sich an das Bekenntnis zu halten, indem sie erzogen waren. Das religiöse Leben ließ in diesen Jahren fühlbar nach, der Besuch der Gottesdienste sank, die Bibelstunden und andere Zusammenkünfte an Werktagen wurden nur von einem Bruchteil der Gemeindemitglieder besucht, besonders in den Stadtgemeinden."[40] |
,,12. Dezember: In Audienz bei Minister Habermann mit Pfarrer Kozak, Lehrer Bäcker und anderen wegen der Not mit unseren Schulen."
Noch galt das Gesetz vom 25. Mai 1868 RGBl. Nr. 48, wodurch grundsätzliche Bestimmungen über das Verhältnis der Schule zur Kirche - und in diesem Falle zur Evangelischen Kirche A. u. H. B. in Österreich - erlassen wurden. Darin bestimmt der § 4 über die Errichtung von Privatschulen:
§ 4: Es steht jeder Kirche oder Religionsgesellschaft frei aus ihren
Mitteln Schulen für den Unterricht der Jugend von bestimmten
Glaubensbekenntnissen zu errichten und zu erhalten. Dieselben sind jedoch den Gesetzen für das Unterrichtswesen unterworfen und können die Zuerkennung der Rechte einer öffentlichen Lehranstalt nur dann in Anspruch nehmen, wenn allen gesetzlichen Bedingungen für die Erwerbung dieser Rechte entsprochen wird."[41] |
Dieses Privatschulgesetz blieb im großen und ganzen weiterhin gültig, lediglich durfte seitens einer Kirche kein Einfluß mehr auf die Schule und ihre Leitung genommen werden. So mußten die Pfarrer, welche vielfach in den Schulen der Kirchengemeinden auch die Leitung innehatten, zurücktreten und weltlichen Lehrkräften den Platz des Direktors abtreten. So wird aus der ,,Geschichte der deutschen evangelischen Schule in Prag" anläßlich ihres hundertjährigen Bestandes von dem Dir. i. R. Franz Repp berichtet (Prag 1927):
,,Ein Paragraph der neuen Verfassung bestimmt, daß der Leiter einer evangelischen Schule ein Lehrer sein muß. An der Spitze unserer Schule waren seit der Gründung stets Geistliche gestanden. Pfarrer Sakrausky legte am Schluß des Schuljahres die Leitung nieder, die auf Beschluß des Kirchenvorstandes auf das älteste Mitglied des Lehrkörpers, Lehrer Repp, überging. So freudig es der Lehrkörper begrüßte, daß nun auch die Prager Schule wie alle anderen evangelischen Schulen einen weltlichen Leiter erhielt, so ungern sah er Pfarrer Sakrausky von der Leitung scheiden; denn dieser war nicht nur ein Mann von gewinnender Liebenswürdigkeit, sondern auch ein Freund der Schule und Lehrer. Bei jeder Gelegenheit ist er mit aller Wärme für beide eingetreten."[42] |
Mit dem Präsidenten Wehrenfennig sprachen auch die beiden Schulmänner Dr. theol. Franz Kozak, Leiter der Lehrerbildungsanstalt mit Übungsschule in Èaslau (HB) und Konsenior des Èaslauer Seniorats der Böhmischen Superintendenz H. B. und mit ihm der sehr verdiente Lehrer Karl Bäcker von der deutschen evangelischen Schule in Prag vor. Von ihm heißt es in der schon genannten Geschichte der deutschen evangelischen Schule in Prag:
,,Er hatte der evangelischen Schule 37 Jahre (1926) gedient. Bäcker war ein ausgezeichneter, gewissenhafter Lehrer, ein verläßlicher Kollege, ein gerader offener Mann.... Die deutsche evangelische Kirche hatte ihn zur Mitarbeit in der Kirchenleitung [20] und im Kirchenkreisamt (jetzt Seniorat, vorher Superintendenz) herangezogen."[43] |
Dr. Franz Kozak, Direktor der im Jahr 1870 gegründeten böhmischen helvetischen Lehrerbildungsanstalt samt 4-klassiger Übungsschule war ebenfalls zu dieser Vorsprache hinzugezogen, da die großen Erhaltungskosten einer solchen Schule nur durch öffentliche Mittel aus der Staatsunterstützungspauschale und aus Beihilfen des Gustav-Adolf-Vereines sowie persönlichen Spenden zumeist aus dem befreundeten Ausland gedeckt werden konnten. Sowohl die deutsche Lehrerbildungsanstalt A. B. in Bielitz, die ja nun dem neuen Staate weggefallen war, als auch jene reformierte böhmische in Èaslau, wie auch alle anderen evangelischen Privatschulen in Böhmen, Mähren und Schlesien waren ja auf die Staatsunterstützungspauschale angewiesen, zumal ja nach dem alten österreichischen Gesetz die Privatschulerhalter dazu angehalten waren, außerdem ihre Beiträge für die öffentlichen Schulen zu leisten.[44]
Während das Seminar mit Übungsschule über mindestens 6 Lehrkräfte - der Ortspfarrer und der (geistl.) Direktor miteingeschlossen - verfügen mußte, waren die Verhältnisse an der deutschen evangelischen Volksschule ähnlich:
,,Zwei Pfarrer, zeitweilig auch ein Vikar, sieben Klassenlehrer, ebensoviele Nebenlehrer für Religion, Handarbeiten, Kurzschrift, Tschechisch, Englisch, Französisch, ein Küster, ein Schuldiener, dazu die oft recht bedeutenden Erhaltungskosten für Kirche, Pfarr-, Schulhaus und Friedhof, die laufenden Ausgaben für Kanzleierfordernisse, Reinigung, Steuern usw., das war für die kaum 3000 Seelen zählende Gemeinde zu viel. Wiederholt waren Kirchenbeiträge und Schulgeld erheblich erhöht worden, gleichwohl konnte zuletzt auch mit der Beitragsleistung des Schulförderungsausschusses das Gleichgewicht im Haushalte der Gemeinde (Prag) nicht mehr aufrecht erhalten werden. Hilferufe an das evangelische Ausland waren fast erfolglos. Man konnte offenbar nicht verstehen, daß eine Anstalt in der Hauptstadt eines Siegerstaates notleidend sein könne."[45] |
Auch wenn es Wehrenfennig nicht ausdrücklich anmerkt, so ist es doch so selbstverständlich, was die Schulmänner bei dem Minister wollten: Wird der neue Staat auch nach dem Protestantenpatent des Jahres 1861 § 20 den evangelischen Kirchen deutscher, oder tschechischer Nationalität Unterstützung zuteil werden lassen? Dort hieß es doch:
,,§ 20: Die Evangelischen beider Bekenntnisse werden zur Bestreitung ihrer kirchlichen Bedürfnisse, abgesehen von demjenigen, was bisher schon aus Staatsmitteln für evangelische Unterrichts- und Kultuszwecke geleistet worden ist, jährliche Beiträge aus dem Staatsschatze erhalten, wie wir dies bereits in unserer Entschließung vom 11. Mai 1860 ausgesprochen haben."[46] |
Es war also dringend notwendig, der neuen Regierung ein klares mit deutlichen Zahlen versehenes Gesuch über den Bedarf an Mitteln für Kirchen- und Schulzwecke vorzulegen, denn es war nicht zu erwarten, daß die neue Regierung hinter dem Protestantenpatent und seinen Freiheiten zurückbleiben würde. Zwei Tage nach dem Besuch, am 14. Dezember schon widmete sich die 1. Sitzung der Kirchenleitung in Aussig bei dem ehem. Sup. Dr. Gummi mit Kirchenanwalt Marschner dieser Frage. Wehrenfennig vermerkt in seinem Tagebuch:
,,14. Dezember, 1. Sitzung der Kirchenleitung in Aussig/Elbe (Dr. Gummi, Marschner und Wehrenfennig)"
Und schon ergeht das erste Gesuch an das Ministerium:
,,17. Dezember, Gesuch um Staatspauschale nach Prag abgesandt an das Schulministerium."
[21] ,,Die Lehrer und Lehrerinnen mußten ja von den Pfarrgemeinden besoldet werden, da sie ja sonst keine Einkünfte hatten. Und dies traf Deutsche wie Tschechen in gleicherweise. Wie aber sah die Kanzlei, der ,,technische Apparat" aus, der Wehrenfennig für seine Verwaltungs- und Leitungsarbeit zur Verfügung stand? Er schreibt:
,,Als ich nach Gablonz zurückkehrte, lag der Schreibtisch meines Pfarramtes voller Post. Die Pfarrer, die Witwen, die Gemeinden fragten um Rat, denn es fehlte an vielen Orten am Lebensunterhalt. Ich war also Vorsitzender der vorläufigen Kirchenleitung und hatte keinen Kreuzer Geld für die bestehenden Nöte. Ich schrieb nach Amerika an Prof. Hübner in der Nebraska-Synode, der aus Gablonz stammte, und dem ich einmal für die Ausreise über das große Wasser das Geld verschafft hatte. Umgehend erhielt ich 18.000 Kè. (heute etwa 180.000 ÖS). Nun erwarb ich eine Schreibmaschine, einen Schrank und stellte einen Sekretär an. Robert Vorbach, der viel schaffen mußte. Er starb im Jahre 1946 bei der Flucht."[47] |
Auch 10 Jahre später hatte sich der ,,Apparat" des Präsidenten nicht sehr vergrößert. Es wurde eine ,,Villa" gekauft, die dann in Pfarrerkreisen den Titel ,,Vatikan" bekam. Ein Auto gab es natürlich nicht, und - was kaum zu verstehen war - der Präsident blieb weiterhin mit einem Vikar Pfarrer der Gemeinde Gablonz mit über 4000 Seelen. Die längste Zeit hindurch wurde seine Arbeit für die Leitung der Kirche ohne zusätzliche Bezahlung geleistet.
,,30. Dezember (1919): kam uns die erste Zuschrift der politischen Landesverwaltung zu, die uns vorher nicht anerkannt hatte."
Wir wissen nicht, um was es im einzelnen bei dieser Zuschrift ging, aber schließlich lebten doch im Lande Böhmen, jetzt Èechy genannt, rund 2,2 Millionen deutsche Bürger, die heirateten, Nachwuchs bekamen, starben, Ämter innehatten, in Pension gingen, einkauften und verkauften - mithin in ziemlich umfangreicher Weise an dem täglichen Leben des neuen Staates teilnahmen und nicht erst fragten ob sie das dürfen. Nachdem die Herren Bene¹ und Kramáø erklärt hatten, daß die Tschechoslowakei ein Nationalstaat sei und damit den Prozentsatz von rund 23% Deutschen (Volkszählung 1921) einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollten, mußten sie dies jetzt tun, da in den von ihnen besetzten Gebieten bis zu den ehemaligen Staatsgrenzen 3120 politische Gemeinden mit 80-100% deutscher Bevölkerung lebten, von denen überdies 987 Gemeinden rein deutsch waren. Das geschlossene deutsche Sprachgebiet in Böhmen, Mähren und Schlesien betrug 1920 24.852 km2 wozu die Sprachinseln noch mit 1706 km2 kamen, was ein Gesamtgebiet von 26.558 km2 ausmachte. Das war rund 1/3 der Gesamtbodenfläche der Tschechoslowakei.
Ein Vergleich mit anderen Nationen Europas ist vielleicht erhellend: ,,In der Tschechoslowakei leben mehr Deutsche als Dänen in Dänemark, und Finnen in Finnland und nahezu so viele als die ganze Schweiz Einwohner hat."[48]
Es blieb also für die Tschechen die schwierige Aufgabe, die Deutschen (3,2 bzw. 3,5 Millionen), die Slowaken (2,2 Millionen), die Magyaren (750.000), Ukrainer (460.000), Juden (180.000) einerseits im Sinne eines Staates mit einem gerechten Minderheitenschutzrecht andererseits im Sinne eines tschechischen Nationalstaates zu verwalten, was unmöglich ist und zu einer letztlich rücksichtslosen nationalistischen Politik führen mußte. Jedenfalls aber - mußten sie zumindest die Existenz einer so großen Minderheit im Rahmen ihres Staates anerkennen.
So versuchten die Tschechen mit dem ,,Minderheitenproblem" fertig zu werden, [22] indem sie in den geschlossenen deutschen Gebieten die Tschechen zur Minderheit stempelten und für sie Schulen errichteten:
Die Gesetze über die staatlichen Minderheitsschulen vom 3. April 1919 und vom 9. April 1920 bestimmen, daß in jeder Gemeinde, in der sich nach einem dreijährigen Durchschnitt mindestens 40 schulpflichtige Kinder befinden, wenn in der Schulgemeinde keine öffentliche Schule mit der Unterrichtssprache besteht, welche die Muttersprache dieser Kinder ist, für diese eine Schule errichtet werden muß. Das für die Errichtung von Schulen sonst vorgeschriebene Verfahren entfällt. Über die Errichtung entscheidet endgültig der Vorsitzende des Landesschulrates. Das Ministerium für Schulwesen und Volkskultur kann aber die Errichtung solcher Schulen ausnahmsweise auch für eine kleinere als die gesetzlich geforderte Zahl von Schülern anordnen. Dieses Gesetz wurde bisher nahezu ausschließlich zugunsten des tschechischen Volkes angewendet; es wurde zu dem Zwecke geschaffen, um das deutsche Sprachgebiet mit tschechischen Schulen zu durchsetzen.
Ende 1922 gab es schon 710 solche Schulen mit 1481 Klassen, Ende 1924 910 Schulen mit 1900 Klassen und rund 75.000 Schulkindern. Davon hatten 19 Schulen deutsche Unterrichtssprache (darunter sind auch die deutschen Prager und Pilsener Schulen enthalten). Seither hat die Anzahl dieser Schulen wieder stark zugenommen; sie werden schon beim Vorhandensein von 2-5 tschechischen Kindern errichtet. Die Mehrheit der Schüler stellen dann deutsche Eltern bei, die ihre Kinder aus verschiedenen Beweggründen ihrer Nationalschule entziehen und in diese Schulen schicken.[49]
[2] Martin Haase, geboren am 15. Juli 1847 in Lemberg als Sohn des galizisch-bukowinischen Superintendenten Adolf Haase, Bruder des Bielitzer Superintendenten Theodor Haase. Zu beiden: Oskar Wagner, Mutterkirche vieler Länder, Geschichte der evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen, 1545 - 1918/19, Böhlau 1978.
[3] Oskar Sakrausky, Julius Theodor Wehrenfennig, Die Lebensgeschichte des ersten evangelischen Predigers in der Gosau, Wien 1968, Eigenverlag.
[4] ,,Heimat und Kirche", Festschrift zum 90. Geburtstag von D. Erich Wehrenfennig, Herausgeber Erik Turnwald, Mathesius Gesellschaft 1963, Heidelberg-Wien.
[5] Schematismus der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Österreich 1913, Evang. Oberkirchenrat Wien 1913.
[6] Die zweite General-Synode der evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses ... 7. Juni-17. Juli 1871, Wien 1872, 36.
[7] a.a.O. 92f.
[8] Bericht des k. k. evangelischen Oberkirchenrathes augsburgischer und helvetischer Confession an die auf den 14. November 1877 einberufene dritte General-Synode, Wien 1877, 5, Beilage 1, Seite XIX ff.
[9] Ludìk Bro¾, Von der Toleranz bis heute, in: Josef L. Hromádka, Von der Reformation zum Morgen, Leipzig 1959, 262 f.
[10] Hugo Hassinger, Die Tschechoslowakei, Rikola Verlag Wien, 1925, 310.
[11] Ludìk Bro¾, a.a.O. 264.
[12] Rudolf Ríèan, Das Reich Gottes in den böhmischen Ländern, Evang. Verlagswerk Stuttgart, 1957, 184 f.
[13] Sudetendeutscher Schicksalskampf, Bibliograph. Institut Leipzig, 1938, 94.
[14] Steffler Reinhard, Die neuen Nationalkirchen der Tschecho-Slowakei, Sächsische Verlagsgesellschaft Leipzig, 1931, 38 ff.
[15] Repp Franz, Geschichte der deutschen evangelischen Schule in Prag 1927, 26: ,,Am 25. Jänner (1919) begrüßten Vertreter der Gemeinde (Prag) den ersten Präsidenten der Republik, Prof. Dr. Masaryk. Für die Schule sprach Pfarrer Sakrausky." Steffler Reinhard, a.a.O. 32 f.
[16] ,,Zwischeneuropa" 1918 - 1945 häufige Bezeichnung für die Staaten zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion (auf der Linie Finnland - Griechenland), Brockhaus 20. Bd.809.
[17] ,,Heimat und Kirche", a.a.O. 13-17.
[18] Blau Josef, Landes- und Volkskunde der tschechoslowakischen Republik, Reichenberg 1927, 13.
[19] Kramáø Karel, geb. 27. 12.1860 in Hochstadt (Böhmen), gest. 26. 5. 1937 in Prag; Seit 1891 Mitglied des öst. Reichsrates und seit 1894 Mitglied des böhm. Landtages. Führer der panslawistisch ausgerichteten tschechischen Nationalbewegung, im Jahre 1916 wegen Hochverrat zum Tode verurteilt, im Juli 1917 begnadigt, bekleidete er als erster das Amt eines Ministerpräsidenten der èsl. Republik. Er wurde am 7. 7. 1919 gestürzt und trat in Opposition zu E. Bene¹ an die Spitze der Nationaldemokraten, die die sowjetfreundliche Politik Bene¹'s ablehnten.
[20] Die Staatsverfassung der Tschechoslowakischen Republik wurde am 29. Jänner 1920 von einem Revolutionskonvent beschlossen, dem neben einigen Slowaken kein Vertreter der fast 5 Millionen anderer Völker angehörte. In dieser Verfassung heißt es die Realität der Slowaken, Deutschen, Ungarn und anderer Völker übergehend: ,,Wir, das tschechoslowakische Volk, haben in der Absicht die vollkommene Einheit des Volkes zu festigen ..., die Verfassung für die tschechoslowakische Republik angenommen, deren Wortlaut folgt..." Mit der Ideologie eines sogenannten ,,tschechoslowakischen Volkes" war der kommende Untergang dieses pseudodemokratischen Staates und die daraus folgende Vertreibung der störenden Deutschen bereits damals schon vorgezeichnet.
Hugo Hassinger, a.a.O. 356 ff.
Als Staatssprache gilt allein die ,,tschechoslowakische" Sprache, die es aber nicht gibt... (Hassinger 359, 297).
Das Schulgesetz vom Jahre 1919 und eine Verordnung d. J. 1920 sistierten die bisher bestandene Selbstverwaltung der Nationen auf dem Gebiete des Schulwesens und gab dem tschechischen [91] Präsidenten des Landesschulrates die autokratische Macht ohne Befragen einer Kommission Schulen und Klassen aufzulösen.
Das im Rahmen der 1919 beschlossenen Bodenreform geschaffene Bodenamt mit seinen hunderten von Beamten und Angestellten, die fast alle Tschechen waren, verfügte über den gesamten Grundbesitz des Staates und wurde zum wichtigen Kampfinstrument gegen die unliebsamen Besitztümer der Minderheiten. (Hassinger 374 f.)
[21] Das Wahlgesetz kommt hinsichtlich der einzelnen Personen durchaus demokratischen Ansprüchen entgegen und beruht auf Gleichberechtigung des einzelnen Bürgers, bestimmt aber kleinere Zahlen der Wahlberechtigten für einen Abgeordneten in tschechischen Wahlkreisen, eine weitaus größere Zahl von Wahlberechtigten in deutschen oder ungarischen Wahlkreisen für einen Abgeordneten, bzw. Senator. ,,Das für die Personen gleiche Wahlrecht ist also ungleich für die Nationalitäten" (Hassinger 361),
Sudetendeutscher Schicksalskampf, a.a.O. 101.
[22] Die Angaben stammen aus dem ,,Evangelischen Volkskalender 1923" Verlag: Ober.-öst. evang. Verein für innere Mission in Gallneukirchen, Artikel: ,,Aus der deutschen evangelischen Kirche in der tschecho-slowakischen Republik, von Pfr. Martin Schreiber aus Falkenau a. d. Eger, Seite 32-35; M. Schreiber, geb. 27. 4. 1879, seit 1912 in Falkenau.
[23] Die Anerkennung der Tschechoslowakei als eines selbständigen Staates im Friedensvertrag von St. Germain vom 10. September 1919 brachte die Loslösung dieser vom ehemaligen Österreich und damit auch die Auflösung der ,,Evangelischen Kirche A. u. H. B. in den deutsch-slawischen Ländern". Da sich die Tschechen ein nationales Kirchentum schufen, blieb den deutschen evangelischen Christen nichts anderes übrig als ebenfalls eine ,,Deutsche evangelische Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien" zu gründen. Die deutschen Gemeinden in der Slowakei wollten sich dieser Kirche anschließen was ihnen aber verboten wurde. Aus Deutscher Glaube 1919, 9/10, 185.
[24] Dieser Gegensatz ist geopolitisch, historisch, kulturell und konfessionell seit Jahrhunderten gepflegt worden.
[25] Die evangelischen Gemeinden in Prag haben sich auf Grund ihrer verschiedenen Entstehung als deutsche und böhmische immer schon auf Grund ihrer nationalen nicht aber konfessionellen Verschiedenheit als solche in der ehemaligen österreichischen Kirche erhalten. Sie wurden immer wieder bei allen nationalen Trennungswünschen der tschechischen Evangelischen als Beispiel angeführt. Über ihre Entstehung: Rù¾ièka Joseph, Denkschrift zur fünfzigjährigen Jubelfeier der Einweihung des Bethauses für den Gottesdienst der deutschen evangelischen Gemeinde zu Prag, 1841, 34 f.; Kaòák Miloslav, Vom westfälischen Frieden zum Revolutionsjahr 1848, in: Tschechischer Ökumenismus, Praha 1977, 188.
[26] Evangelische Kirchenverfassung vom 9. Dezember 1891, § 20; Wien 1913, 20.
[27] Steffier Reinhard, a.a.O. 70 - 74.
[28] Otto Waitkat, geb. am 9. 9.1870, ordiniert am 28.9.1902, war Pfr. vom Jahre 1906 bis 1913 in Steyr, Oberösterreich. Seine Erlebnisse in der Männerstrafanstalt in Garsten, wo sämtliche evangelische Sträflinge von Wien, Ober- und Niederösterreich, Salzburg, Tirol und zuletzt auch des Burgenlandes untergebracht sind - veranlaßten Pfr. Waitkat, im Sommer 1913 sein Amt niederzulegen und in Habstein bei Böhmisch-Leipa eine Zufluchtstätte für entlassene Sträflinge, den ,,Sonnenhof", zu gründen, aus welcher später eine blühende Anstalt der Inneren Mission wurde, (aus: Pfr. Hugo Fleischmann, Das Evangelium in Steyr, 1927, 26.) - Schiefermair Karl, geb. 16. 9.1875, ordiniert 19. 5.1901 in Rottenmann seit dem Jahre 1900. - Pfr. Dr. theol. Ludwig Mahnert, geboren am 27. August 1874, ordiniert am 1. Dezember 1901, seit 1904 Pfr. in Marburg an der Dräu, Mitglied des steirischen Senioratsausschusses.
[29] Steffler Reinhard, a.a.O. 71.
[30] Schon im Juli 1908 wurde Dr. Ernst Veit als leitender Arzt des durch die Übernahme des Sanatoriums Dr. Bloch seitens des evangelischen Diakonissenhauses in der späteren Sokolstraße Nr. 33 bestellt. Dr. Veit verlobte sich ein Jahr später mit Frl. Anny Schier aus Linz. In den zwanziger Jahren hatte er die Obmannstelle des Vereines der Inneren Mission inne.
[31] Am 16. 8. 1927 tagte die 22. Hauptversammlung des Evangelischen Bundes in Österreich (Spittal a. D. und in Seeboden) und beschloß folgendes: ,,Die Hauptversammlung des Hauptvereines des Evangelischen Bundes für Österreich erkennt mit tiefer Besorgnis die Gefahr des immer mehr überhandnehmenden Judentums, eine Gefahr, die nicht allein die wirtschaftlichen Belange des deutschen Volkes schwer beeinträchtigt, sondern besonders auf geistigem und kulturellem Gebiete äußerst bedrohlich wird. Die Hauptversammlung fordert darum alle Mitglieder des Bundes zum schärfsten Kampfe wider diesen Volksfeind auf. Insbesondere ist gegen die Wahl getaufter Juden in evangelische Gemeindekörperschaften entschieden Stellung zu nehmen." (aus: Deutscher Glaube, Oktober 1927, 25. Jgg. 306) In der 7. Hauptversammlung des Evangelischen Bundes der Deutschen evang. Kirche in Böhmen, Mähren und Schlesien in Brüx wird derselbe Entschluß wie ihn die evangelische Kirche in Österreich gefaßt hatte, übernommen. Im gleichen Oktoberheft (Seite 321) wird ein Aufruf des Hauptvereines für evangelische Liebestätigkeit und Pflege evangelischen Lebens erlassen (Innere Mission) der mit der Unterschrift des Obmannes Dr. Ernst Veit gezeichnet ist. Man möge daraus ersehen, daß damals noch zwischen Juden und Juden ein Unterschied gemacht wurde und die verallgemeinernde, vernichtungswütige Haltung des nationalsozialistischen Rassismus noch nicht Platz gegriffen hatte, aber sie wurde so mit vorbereitet.
[32] Wehrenfennig Erich, Mein Leben und Wirken, Verlag Glaube und Heimat, Melsungen 1956, Seite 13; Schriften der Gemeinschaft evangelischer Sudetendeutscher e. V. Folge 2.
[32a] Das Lied stammt von Pfr. Bernhard Wehrenfennig (1805 - 1855) und steht heute noch im Evgl. Kirchengesangsbuch Nr. 533 v. 3.
[33] Lehmann - Piesch - Zahradnik, Um Glaube und Heimat, Evangelische Bausteine zum sudetendeutschen Geschichtsbild, Melsungen 1957, Seite 115.
[34] Wehrenfennig Erich, a.a.O. 14.
[35] Erbe und Auftrag evangelischer Sudetendeutscher, Erste Jahrestagung in Kronberg/Taunus und Heiligenhof, Melsungen 1955, in Schriften der ,,Gemeinschaft evangelischer Sudetendeutscher e. V.", Seite 10.
[36] Wehrenfennig Erich, a.a.O. 10.
[37] Ludìk Bro¾, a.a.O. 254.
[38] Derselbe 264.
[39] Derselbe 269. [92]
[40] Derselbe 270.
[41] Kaiserliches Patent vom 8. April 1861, Evangelische Kirchenverfassung vom 9. Dezember 1891 ... und anderes, Wien 1913, 133.
[42] Repp Franz, a.a.O. 25.
[43] Derselbe 32.
[44] Schematismus 1913, 121. Die zweite Generalsynode 1871, LIII - LXII und Angang 154 ff.
[45] Repp Franz, a.a.O. 29.
[46] Kaiserliches Patent... 1861 ..., 9.
[47] Wehrenfennig Erich, a.a.O. 14.
[48] Blau Josef, a.a.O.37.
[49] Derselbe, a.a.O. 350.